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Totenfrau

Totenfrau

Titel: Totenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Aichner
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nicht.
    – Du bist wie ein schöner Satz.
    – Ein Satz?
    – Ein wunderschöner Satz. Einer, der dich berauscht, der dich verzaubert, einer, der dich nicht mehr loslässt. Ein Satz, den man spürt. Kein Wort zu viel, einfach und klar.
    – Zum Beispiel?
    – Der Himmel hat sich langsam gedreht.
    – Was hat er?
    – Der Himmel hat sich langsam gedreht.
    – Verrückter Kerl.
    – Wunderschön, oder?
    – Mark, mein lieber Mark, du mein romantischer Bulle du. Zuerst fallen die Sterne vom Himmel, und dann dreht sich auch noch der Himmel.
    – Genau so ist es. Und das alles nur für dich.
    – Lass dich küssen, mein Geliebter.
    Mark und Blum. Irgendwo vor Zadar. Nackt an Deck, nackt ineinander, das Meer spiegelglatt und still. Das Meer war Heimat. Und jetzt hat es plötzlich aufgehört. Plötzlich ist es ausgelöscht, ist da kein Rauschen mehr, kein Blau. Mark wird es nie wieder sehen. Da sind nur noch das Kauen der Kinder, die traurigen Augen und die Stille in der Küche. Wie Blum sich erinnern will, mit Gewalt holt sie die Bilder zurück in ihren Kopf, sie will die Wirklichkeit nicht, sie will zurück ins Gestern, zurück auf das Boot, zurück zu seiner warmen Haut. Sie will es. Sie kann es nicht. Sie muss ihre Kinder umarmen, sie muss mit ihnen spielen, ihnen vorlesen, sie muss sich um sie kümmern. Bis die kleinen Augen zufallen, bis die Nacht sie rettet. Dann wird sie zu ihm gehen. Dann erst, nicht jetzt.

5

Wie er daliegt. Sein kaputter Körper. Verletzte Haut. Sie haben ihn aufgeschnitten und wieder zugenäht, sie haben ihm den Kopf aufgemacht, sie haben sein Blut untersucht, seine Organe, sie wollten wissen, ob er nüchtern war, ob er unter Drogen stand, sie wollten ausschließen, dass es seine Schuld war. Nachdem sie zusammengebrochen war, hatte man ihn in die Gerichtsmedizin gebracht, man wollte keinen Fehler machen. Ob bei Fahrerflucht mit Todesfolge obduziert werden sollte, oblag den ermittelnden Behörden und dem Staatsanwalt. Und der hatte entschieden. Dass sein Schädel zerschnitten wurde, dass sein Gehirn entnommen wurde, dass sein Brustkorb geöffnet wurde wie eine Einkaufstüte, dass er wieder zusammengenäht wurde. Sie haben noch mehr kaputt gemacht, noch mehr Wunden in ihn hineingeschnitten. Mark. Seine Hände, sein Mund. Wie er daliegt.
    Blum will mit ihm allein sein. Sie hat Reza gebeten, zu gehen. Sie weiß nicht, was passieren wird, ob sie weinen wird, schreien. Sie weiß gar nichts mehr, nur dass ihr Mann regungslos vor ihr liegt, nackt und tot. So wie all die anderen, um die sie sich in den letzten zwanzig Jahren gekümmert hat. Leichen, leblose Körper mit offenen Mündern, aus dem Leben gerissen. Nie hat sie weinen müssen, nie Schmerz und Trauer gefühlt, nie. Für Blum ist es Alltag, der Tod macht ihr keine Angst. Bis jetzt nicht. Jetzt ist es anders. Ganz anders. Alles, was sie gesehen hat in ihrem Leben, ist wie ein Witz, lächerlich gegen das, was vor ihr liegt. Ihre Liebe, totgefahren, auseinandergerissen, ausgehöhlt.
    Lange steht sie einfach nur da und schaut ihn an. Ohne Tränen. Das eingetrocknete Blut, sein Gesicht, das wie durch ein Wunder unversehrt geblieben ist. Blums Augen wandern seinen Körper entlang, alles ist ihr vertraut. Jeden Zentimeter seiner Haut hat sie geküsst. Jeden Zentimeter von ihm liebt sie. So sehr, dass sie nicht weiß, ob sie weiterleben kann. Ohne ihn. Wie sie dasteht und schaut, atmet, schluckt. Wie sie sterben möchte, einfach Schluss machen möchte, nichts mehr spüren, gar nichts mehr, nie wieder. Nicht daran erinnert werden, dass das Leben einmal schön war, dass sie glücklich war. Blum will ihren Kopf gegen die Wand schlagen, hundertmal ihre Stirn auf die weißen Kacheln, sie will, dass es aufhört wehzutun, sie will, dass das Messer in ihrer Brust endlich aufhört zu wühlen und zu graben und zu schneiden. Tot sein wie er. Daliegen wie er. Neben ihm. Einmal noch.
    Sie macht es wie immer. Wie ferngesteuert erledigt sie ihre Arbeit. Von einem Moment zum anderen beginnt sie mit der Versorgung, mit Watte und Eiweißlöser reibt sie das Blut von seiner Haut, sie reinigt die Wunden, liebevoll jedes verletzte Stück. Ohne zu zittern, näht sie und versucht, alles wiedergutzumachen, sie öffnet die Kopfnaht, sie stoppt die Blutung, behutsam schließt sie die Naht wieder, Stich für Stich. Sie bringt es wieder in Ordnung, so gut sie kann. Sie füllt die tiefen Wunden mit Zellstoff, sie bringt die deformierten Körperteile wieder in ihre Form, sie

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