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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen
Autoren: B Akunin
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bedeuten hatte. Ach so: Es lag wohl an dem seitlich hinter ihm ausschreitenden jungen Mann im blauen Gendarmenmantel, mit Säbel und Revolvertasche. Ein Außenstehender mochte denken, der an sich doch ganz anständig ausschauende Herr inPelzmantel und sämischledernem Zylinder würde abgeführt. Zwei entgegenkommende Ingenieurstudenten, die Fandorin überhaupt nicht kannte, nickten dem »Arrestanten« sogar zu, während Blicke voller Haß und Verachtung die »Eskorte« trafen. Fandorin wandte sich nach dem Oberleutnant um, doch der lächelte freundlich wie immer und schien die Feindseligkeit der jungen Männer gar nicht bemerkt zu haben.
    »Smoljaninow, Sie werden voraussichtlich ein paar Tage mit mir unterwegs sein. Ich bitte Sie, nicht in Uniform zu erscheinen, das dürfte der Sache kaum dienlich sein. Besser in Zivil. Und übrigens, was ich Sie schon immer f-fragen wollte: Wie kommt es, daß Sie bei der Gendarmerie gelandet sind? Ihr Vater ist doch Geheimrat, wenn ich nicht irre? Sie könnten gut bei der G-g-… Garde sein.«
    Der Oberleutnant nahm die Ansprache als Aufforderung, den respektvollen Abstand zu verkürzen – ein Sprung, und er war mit Fandorin auf gleicher Höhe.
    »Was hätte ich davon, bei der Garde zu dienen?« gab Smoljaninow bereitwillig Auskunft. »Ewig nur Paraden und Besäufnisse, das ödet einen doch an. Bei der Gendarmerie zu dienen macht dagegen großen Spaß. Geheimaufträge ausführen, gefährliche Verbrecher jagen, manchmal wird auch scharf geschossen. Voriges Jahr hat sich ein Anarchist in Nowogirejewo auf einer Datscha verschanzt, wissen Sie noch? Drei Stunden Schießerei, wir hatten zwei Verwundete. Um ein Haar hätte es auch mich erwischt, die Kugel ist mir an der Wange vorbeigezischt. Ein halb Zoll weiter links, und ich hätte jetzt einen ordentlichen Schmiß.«
    Das Bedauern des jungen Mannes über die verpaßte Gelegenheit war unüberhörbar.
    »Und daß … daß die blaue Uniform den meisten Leuten,vor allem Ihren Altersgefährten, ein D-dorn im Auge ist, das macht Ihnen nichts aus?«
    Hierbei sah Fandorin seinem Begleiter gespannt in die Augen, doch dessen Blick blieb ungerührt.
    »Darauf achte ich gar nicht. Ich diene dem Vaterland, und mein Gewissen ist rein. Und eines Tages werden die Vorurteile gegenüber dem Gendarmeriekorps ohnehin aus der Welt sein – wenn nämlich den Leuten allen klargeworden ist, wie viel unsereins leistet zum Schutze des Staates und der Opfer von Gewalt. Sie kennen doch unser Ehrenzeichen, das Zar Nikolaus I. dem Korps verliehen hat – ein weißes Tuch für die Tränen der Unglückseligen und Geplagten.«
    Soviel naiver Enthusiasmus ließ den Staatsrat erneut einen staunenden Blick auf seinen Begleiter werfen.
    »Unser Dienst gilt nur deswegen als schändlich, weil man so wenig von ihm weiß«, fuhr der Oberleutnant noch hitziger fort. »Und übrigens ist es gar nicht so einfach, eine Offizierslaufbahn bei der Gendarmerie einzuschlagen. Erstens wird nur Erbadel genommen. Immerhin sind wir die Beschützer des Throns, auf uns kommt es an. Zweitens werden hierfür nur die würdigsten, die gebildetsten Offiziere der Armee ausgesucht, man muß die Akademie abgeschlossen haben, mindestens Oberstufe. Kein Vergehen im Dienst. Und um Himmels willen keine Schulden. Ein Gendarm muß eine reine Weste haben. Wenn Sie wüßten, wie viele Examen ich zu absolvieren hatte – Hilfe! Für meinen Aufsatz zum Thema ›Rußland im zwanzigsten Jahrhundert‹ hab ich die Höchstnote bekommen, und trotzdem mußte ich fast ein ganzes Jahr bis zur Aufnahme in den Lehrgang warten, und danach dauerte es noch einmal vier Monate, bis eine Stelle frei war. Bei der Moskauer Behörde bin ich aber nur mit Papas Hilfe gelandet …«
    Letzteres hätte Smoljaninow nicht erwähnen müssen, weshalb Fandorin die Ehrlichkeit des jungen Mannes um so höher zu würdigen wußte.
    »Welche Zukunft blüht Rußland denn nun im zwanzigsten Jahrhundert?« fragte Fandorin, und sein Seitenblick auf den Thronbeschützer war voller Sympathie.
    »Eine grandiose! Es bräuchte nur einen Stimmungsumschwung unter der gebildeten Bevölkerung, weg vom Defätismus, hin zum Unternehmungsgeist, und die ungebildeten Teile der Bevölkerung müßten Bildung erhalten, damit sie Stück für Stück zu Selbstachtung und Würde finden. Das ist die Hauptsache! Wenn wir das versäumen, dann werden auf Rußland noch sehr schwere Prüfungen zukommen …«
    Welcherart Prüfungen das sein würden, erfuhr Fandorin vorerst
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