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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen
Autoren: B Akunin
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PROLOG
     
    Die Fenster zur linken Seite waren blind, von Eis und nassem Schnee verklebt. Unentwegt warf der Wind pappige weiche Flocken gegen die kläglich klirrenden Scheiben, rüttelte am schweren Leib des Waggons, ließ nicht ab von dem Versuch, den Zug vom glatten Geleise zu stoßen und wie eine schwarze Schlackwurst über das weite weiße Feld zu rollen, über den zugefrorenen Fluß, die brachen Äcker, geradenwegs bis zum Waldrand, der sich ganz hinten, wo Himmel und Erde zusammenstießen, als vager grauer Streifen abhob.
    Diese ganze betrübliche Landschaft konnte man gut durch die rechten Fenster betrachten, welche erstaunlich rein und klar geblieben waren – doch wozu hätte man das tun sollen? Nichts als Schnee, höllisch pfeifender Wind und grauer, tiefhängender Himmel: Trübe, Kälte, Tod.
    Um wieviel hübscher war es hier drinnen, im ministerialen Salonwagen: behagliches, von hellblauer Seide getöntes Schummerlicht, das Knacken der brennenden Holzscheite hinter der bronzenen Ofentür, der rhythmisch gegen den Rand des Teeglases klingelnde Löffel. Das Kabinett war nicht groß, doch exquisit eingerichtet: Konferenztisch, Ledersessel, eine Karte des Imperiums an der Wand. So mit fünfzig Werst 1 pro Stunde durch den Schneesturm fegend, ließ sich auch einem trüben, kalten Wintermorgen etwas abgewinnen .
    In einem der Sessel, bis zum Kinn mit einem schottischen Plaid zugedeckt, schlummerte ein alter Mann mit strengen, herrischen Gesichtszügen. Noch im Schlaf waren seine silbergrauen Brauen gerunzelt, in den Winkeln des unerbittlichen Mundes hatten sich Kummerfalten eingegraben, immer wieder ging ein nervöses Zucken über die furchigen Wangen. Der hin- und herschwingende Lichtkegel der Lampe entriß dem Halbdunkel eine kräftige, auf der Armlehne aus Mahagoni ruhende Hand mit funkelndem Diamantring.
    Auf dem Tisch, direkt unter der Lampe, lag ein Stapel Zeitungen. Zuoberst der illegal in Zürich erscheinende
Volkes Wille
, neueste Ausgabe, von vorgestern. Ein Artikel auf dem nach oben gefalteten Teil war mit wütendem Rotstift markiert:
     
     
    Urplötzlich heulte die Lokomotive auf, so durchdringend, daß es einem in die Glieder fuhr – erst einmal lang, dann mehrmals kurz: »Uuuh! U! U! U!«
    Die Lippen des Schlafenden zuckten nervös, ein dumpfes Stöhnen drang zwischen ihnen hervor. Die Augen klappten auf, ein befremdeter Blick huschte erst nach links, zu denhellen Fenstern hin, dann nach rechts zu den dunklen, ehe er endlich scharf wurde und zu verstehen schien. Der finstere Alte warf den Plaid von sich (kurze Samtjacke, weißes Hemd und schwarze Fliege kamen zum Vorschein) und betätigte, die trockenen Lippen bewegend, ein Glöckchen.
    Die Tür, die aus dem Kabinett ins Vorzimmer führte, öffnete sich sogleich. Herein flog ein Oberstleutnant, recht jung noch, in blauer Gendarmenuniform mit weißen Achselschnüren, der sich im Laufen den Leibriemen zurechtrückte. »Einen guten Morgen, Hohe Exzellenz!«
    »Sind wir schon durch Twer?« fragte der General mit belegter Stimme, ohne den Gruß zu erwidern.
    »Zu Befehl, Herr General. Wir sind kurz vor Klin.«
    »Schon vor Klin?« Der General in seinem Sessel schien erbost. »Wieso hast du mich nicht früher geweckt? Hast du verschlafen?«
    Der Offizier rieb sich die zerknitterte Wange.
    »Nicht doch! Ich sah nur, daß Sie eingenickt waren. Gut, daß der Herr General mal ein Auge zutut, hab ich gedacht. Macht ja nichts, zum Waschen, Ankleiden und Teetrinken bleibt genügend Zeit. Noch eine Stunde bis Moskau.«
    Der Zug verlangsamte die Fahrt, schien bremsen zu wollen. Draußen tauchten Lichter auf, vereinzelte Straßenlaternen, eingeschneite Dächer.
    Der General gähnte.
    »Na schön, dann laß schon mal den Samowar aufstellen. Irgendwie will mir das Aufwachen heute schwerfallen.«
    Der Oberstleutnant salutierte und trat ab, schloß lautlos hinter sich die Tür.
    Das Vorzimmer war hell erleuchtet, es roch nach Likör und Zigarrenrauch. Neben dem Schreibtisch, den Kopf aufgestützt,saß noch ein Offizier: weißblond, rotgesichtig, mit hellen Brauen und Schweinswimpern. Er räkelte sich, daß die Gelenke knackten.
    »Na, was sagt er?« fragte er den Oberstleutnant.
    »Er will den Tee. Ich gebe Anweisung.«
    »Aha«, sagte der Blonde gedehnt und blickte zum Fenster hinaus. »Ist das Klin? Setz dich, Michele. Ich geh und sag Bescheid wegen des Samowars. Muß sowieso mal raus, die Beine vertreten. Kann ich gleich nachschauen, ob die nicht wieder pennen,
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