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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen
Autoren: B Akunin
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nicht, denn sie waren bereits in den Bolschoi Gnesdnikowski eingebogen und sahen vor sich das unscheinbare, zweistöckige grüne Gebäude, in dem die Moskauer Geheimpolizei ihren Sitz hatte.
     
    Einer, der sich nicht auskannte im verschlungenen Geäst des altehrwürdigen Baumes, welcher das russische Staatswesen war, mochte sich nur schwer vergegenwärtigen, worin der Unterschied zwischen Geheimpolizei und Gendarmerie recht eigentlich bestand. Formell gesehen, oblag ersterer die Verfolgung politischer Täter, letzterer die Ermittlung gegen sie. Insofern allerdings Verfolgung und Ermittlung zumindest bei geheim geführten Untersuchungen nicht voneinander zu scheiden sind, taten beide Behörden praktisch dasselbe: Sie versuchten, das revolutionäre Krebsgeschwür auszumerzen, und dies mit allen vom Gesetz vorgesehenen oder auch nicht vorgesehenen Mitteln. Gendarmen ebenso wie »Geheime« rekrutiertensich aus seriösem, gründlich geprüftem Personal, denn mit Staatsgeheimnissen hatten es beide zu tun. Der Unterschied war nur, daß die Gendarmerieverwaltung des Gouvernements dem Stab des Sondergendarmeriekorps unterstand, die Geheimpolizei dem Polizeidepartement. Das hieraus resultierende Durcheinander verkomplizierte sich noch dadurch, daß führende Ränge der Geheimpolizei des öfteren auch beim Gendarmeriekorps geführt wurden, während bei der Gendarmerie wiederum Staatsbeamte saßen, die vom Departement kamen. Offenbar hatte es in früheren Zeiten einen durch Erfahrung klugen, von der Lauterkeit der menschlichen Natur nicht allzu überzeugten Mann gegeben, der meinte, ein Argusauge wäre für so ein ruhloses Imperium zu wenig. Aus gutem Grund hat der liebe Gott den Menschen zwei Augäpfel geschenkt. Nicht nur, daß man mit zwei Augen einen Brandherd schneller erspäht hat – man verhindert so auch, daß ein Auge allein sich zuviel auf sich einbildet. Darum also war das Verhältnis zwischen den beiden Säulen der politischen Polizei traditionell von Eifersucht und Feindseligkeit geprägt, was die Obrigkeit nicht bloß hinnahm, sondern vermutlich sogar förderte.
    In Moskau wurde die uralte Fehde zwischen Gendarmen und »Geheimen« zumindest ein wenig dadurch gemildert, daß man denselben Vorgesetzten hatte – den Polizeipräsidenten nämlich. Das »grüne Haus« am Bolschoi Gnesdnikowski schien hierbei jedoch im Vorteil, da es über das größere Agentennetz verfügte und darum besser als die blauuniformierten Kollegen der Gendarmerie über das Leben in der großen Stadt und deren Launen informiert war – und wer die besseren Informationen hat, der ist für einen Vorgesetzten allemal nützlicher. Eine gewisse Bevorzugung der Geheimpolizei ließ sichschon am Standort ablesen, befand sie sich doch in unmittelbarer Nähe zur Residenz des Polizeipräsidenten. Um aus dem Hintereingang der einen in den Hintereingang der anderen zu schlüpfen, hatte man lediglich einen geschlossenen Hof zu überqueren, während selbst ein geübter Fußgänger von der Malaja Nikitskaja bis zum Twerskoi eine Viertelstunde benötigte.
    Durch die anhaltende Vakanz des Führungspostens aber war, wie Fandorin sehr gut wußte, die empfindliche Balance zwischen beiden Behörden gestört. Schon aus diesem Grunde waren die Verdächtigungen, die Swertschinski über Burljajew und seine Mannschaft geäußert hatte, mit einiger Vorsicht zu genießen.
    Fandorin stieß die unansehnliche Tür auf und kam in ein schummriges Foyer mit niedriger, von Rissen durchzogener Decke. Ohne zu zaudern, nur mit einem kurzen Nicken hin zu dem Türdiener in Zivil, der mit einer stummen, devoten Verbeugung antwortete, lief er eine alte geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock. Smoljaninow, die Hand am Säbel, polterte hinterdrein.
    Das obere Stockwerk korrigierte den ersten Eindruck beträchtlich: ein breiter, heller Korridor mit Läufer, lederbespannte Türen, hinter denen Schreibmaschinen geschäftig klapperten, und an den Wänden prunkvolle Stiche mit Ansichten vom alten Moskau.
    Der Oberleutnant der Gendarmerie war offensichtlich zum ersten Mal auf »feindlichem« Territorium und sah sich mit unverhohlener Neugier um.
    »Warten Sie hier«, sagte Fandorin und deutete auf eine Reihe Stühle, bevor er im Kabinett des Direktors verschwand.
    »Freut mich, Sie gesund und munter zu sehen!« rief Oberstleutnant Burljajew und kam hinter dem Schreibtischhervorgesprungen, dem Gast die Hand zu schütteln; der Eifer schien etwas übertrieben, da sie einander erst vor
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