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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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Lautsprecher in alle Abteilungen übertragen, seine letzten Worte gehen im Applaus unter. Schon drängen sich alle um die Tabletts mit den Gläsern und leckeren Häppchen. Winzige Häppchen, vor allem für eine so breite Männerhand, wie sie sich Vicky nun zögernd entgegenstreckt. Eine schwielige Hand, die das Zupacken gewohnt ist. Sie schaut in das verlegene Gesicht des Mannes, der in Zimmermannskluft gekommen ist. Er muss einer der geladenen Bauleute sein. Auch er hat das Gebäude wachsen sehen, ja sogar wachsen lassen in den vergangenen Monaten. Sein Blick wandert von den Schinkenröllchen und Käsewürfeln mit Trauben zu ihrem gewölbten Bauch unter der Schürze, und er lächelt sie einen Augenblick an, als wüsste er, dass sie jede Ermunterung brauchen kann. Als wüsste er auch sonst so einiges über sie, obwohl sie sich noch nie begegnet sind, oder doch jedenfalls über das Leben, auch wenn er nur ein paar Jahre älter sein wird als sie selbst. Sie hält ihm das Tablett gleich noch einmal hin.
    Wenig später, als alle Schinkenröllchen und Trauben verputzt sind und sie ihr leeres Tablett auf die anderen stapelt, tauchtElsie auf. Ihre blonden Locken stehen ihr um den Kopf wie ein Heiligenschein, auf den schon so mancher hereingefallen ist. »Die Kurz sagt, wir sollen zur Tombola kommen und Glücksfee spielen.« Elsie grinst sie an. »Aber die moderne Glücksfee ist in der Feen-Gewerkschaft, nicht? Und da heißt es: wohlverdiente Pause und ab in den Himmel.« Sie zieht Vicky zum Aufzug. »Unser Weg führt jetzt steil nach oben.«
    Wieder wird Vicky bei der Fahrt in die Höhe flau im Magen. Ist der Blick von dort oben wirklich so berauschend, wie Harry erzählt hat? Auf der Dachterrasse stehen Vicky und Elsie, die Arme um die Schultern der anderen gelegt, am Geländer und schauen über die Dächer der endlosen Stadt. Das Licht der Nachmittagssonne fällt auf die Kuppel des Doms, spiegelt sich in den Fensterfronten am Alexanderplatz, vergoldet Baukräne und Kirchtürme.
    »Ist mir jetzt schwindlig vor Höhe oder vor Glück?«, fragt Elsie, den Blick in die Ferne gerichtet. Vicky antwortet nicht. Sie hat den ganzen Nachmittag noch kein Wort mit Harry gewechselt, ist nicht einmal in seine Nähe gekommen.
    Ein paar Stunden später, es beginnt bereits zu dämmern, ordnet Vicky im Dachgartenrestaurant die Blumen in den Vasen. Die Tische für die geladenen Gäste sind mit weißen Damastdecken und Silberbesteck eingedeckt. Die Glastüren stehen zur Terrasse hin offen. In die Stimmen der Gäste mischt sich Musik, die Tanzkapelle spielt die ersten Takte eines Walzers. Während Vicky die Kerzen anzündet, geht es zu Ragtime über, und beim lang gezogenen Ton einer Trompete fällt Vicky das Streichholz aus der Hand. Sie steht da und sieht zu, wie die Glut einen schwarzen Fleck in das weiße Tischtuch frisst.
    Der Abendhimmel hat sich rot gefärbt. Lächelnd reicht Vicky auf der Terrasse den Gästen die Gläser, auch wenn ihr das Tablett schwer wird. Auf einmal schweben die ersten Töne heran –ihr Lied! Vickys Herz setzt aus, stolpert dem Takt hinterher, zu dem sie das erste Mal mit ihm den Shimmy getanzt hat. »Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir. Was braucht man beim Küssen von Obst was zu wissen. Da ist doch nicht Zeit dafür!« Bei diesem Tanz, da wurde man von Kopf bis Fuß durchgeschüttelt, und nach dem ersten Shimmy mit Harry, da hörte das Schütteln so bald nicht wieder auf. Seitdem hieß Harry, wenn sie allein waren, für sie nur noch Shimmy. Wo ist er? Sie muss jetzt und hier zu diesem Lied mit ihm tanzen!
    Eine Hand streckt sich ihr entgegen, es dauert einen Moment, bevor Vicky begreift, dass der Herr im Smoking ein Glas von ihr möchte. Sie hält es ihm lächelnd hin, da schneidet jäher Schmerz in ihren Bauch. Das Glas fällt zwischen ihnen zu Boden, wie in Zeitlupe sieht sie es fallen, auf den Steinen der Dachterrasse zerschellen. Sie dreht sich um und lässt den verdutzten Herrn stehen. Harry, ich muss ihn finden, weiter kann sie nichts denken, während sie blind durch die Menge steuert. Ich sterbe. Harry. Ich muss dich finden.
    Endlich, als sie schon eine Ewigkeit herumgeirrt ist mit dem schneidenden Schmerz im Bauch, entdeckt sie ihn. Neben seinem Vater, der dem Bürgermeister die Hand schüttelt, umringt von Menschen, steht Harry. Voller Furcht und Flehen richtet Vicky ihre Augen auf ihn. Ich sterbe. Harry. Du musst mir helfen. Nur eine Sekunde treffen sich ihre Blicke. Harry sieht sie an
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