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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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und sieht durch sie hindurch wie durch eine Fremde. Da wendet sie sich von ihm ab und flieht ins Innere des Kaufhauses.
    Das Reden und Lachen dröhnt in ihren Ohren, ihr ist übel vom Essensdunst, vom Schweißgeruch, den die Menschen unter ihrer Parfümschicht ausströmen. Immer weiter zieht sie sich zurück, bis sie keinem Menschen mehr begegnet. Oben spielt nun die Musik, die unteren Etagen liegen verlassen da. Die Verkaufshallen sind verschlossen, von Posten bewacht. Sie kann nur schemenhaft sehen, tastet sich beim Gehen an der Wandentlang, auf der Suche nach einem Ausweg. Jeder Schritt kostet unendliche Kraft. Die nächste Woge des Schmerzes überrollt sie.
    Rechts und links ein Klaps gegen ihre Wangen. Eine heisere, fremde Stimme: »Wach auf, Mädchen! Wach auf!« Zigarettenrauch brennt in ihren Augen, und als Vicky sie öffnet, erscheint in der Rauchwolke dicht vor ihr ein hageres Gesicht. »So is es brav, Mädchen!« Die Alte ist hässlich, denkt sie, aber es muss eine gute Hexe sein. Ihre Stimme klingt beruhigend, und die Hand, die ihr Handgelenk umfasst hält, ist angenehm kühl. Sie legt den Kopf auf den rauen Stoff zurück, einen Sack mit Aufdruck. »Deutsche Reichspost« liest Vicky, ohne zu begreifen, und will die Augen wieder schließen. Doch die Alte zwingt sie, sich aufzurichten. Wie eine Nussschale auf hoher See wird sie hin und her geworfen. Nur die kühlen Hände und die Stimme der Alten lotsen sie durch den Sturm. Ein Ufer kann sie nicht erkennen, sich nicht einmal vorstellen. Und doch ist unter allem Aufruhr in ihrem Inneren ein totenstiller Punkt.
    Irgendwann ist noch jemand im Raum, legt sich ein zweites Paar Hände auf ihre Schultern, an ihren Kopf, kräftige Hände, kräftig und warm. Eine tiefe, ruhige Stimme spricht zu ihr. Und als ihr eigenes Wimmern und Stöhnen verstummt ist, erfüllt den Raum ein gellender Schrei. In den Schrei mischt sich ein Prasseln und Knarren wie von Schüssen, das durch das hoch gelegene schmale Fenster dringt. »Was ist das?«, fragt Vicky benommen. »Haben wir Krieg?«
    »Unsinn!« Die Alte bläst Rauch durch die Nase. »Wir haben ein Kind.«
    Vor dem Fenster fallen rot und grün leuchtende Kugeln herab. »Ein Feuerwerk«, sagt der Mann, der ihr den Rücken zuwendet und eine Zimmermannskluft trägt. »Das Kind muss eine Königin sein.«
    »Schere und Bindfaden«, weist die Alte ihn an. Der Mannkramt in den Schubladen, überreicht ihr beides, ohne in Vickys Richtung zu schauen. Die Alte durchtrennt die Nabelschnur, verfrachtet das Kind auf die Paketwaage und verkündet: »Zweitausendachthundertfünfzig Gramm.«
    »Ist ein Mädchen«, sagt der Zimmermann, und die Alte legt ihr das feuchtwarme Bündel auf den Bauch. »Vielleicht is der Vater ’n englischer Lord«, meint sie und steckt sich mit den noch blutigen Händen die nächste Zigarette an. »Oder ein Schessmusiker. Wo isser denn jetzt, der Herr Schimmy?«
    »Elsa«, sagt Vicky, als sie die Arme um das Bündel schließt. »Sie soll Elsa heißen.«
    Vicky und Elsie beugen sich von beiden Seiten über die Wiege. Vorsichtig streicht Elsie die Decke über der schlummernden Elsa glatt. »Pass mir bloß auf mein Patenkind auf!« Sie küsst ihre Freundin zum Abschied auf die Wange. »Und auf dich. Sieh zu, dass du wieder zu Kräften kommst!«
    »So wie du vorgesorgt hast, kann ich mich ja nun wochenlang mästen. Und die Kleine gleich mit.« Vicky tätschelt ihren Bauch und Busen, doch ihr Lachen klingt erschöpft. »Weiß nicht, wie wir’s ohne dich geschafft hätten, Elsie. Hoffentlich kann ich mich mal revanchieren. Willst du nicht auch ein paar uneheliche Bälger kriegen? Welche Väter kämen denn zurzeit infrage?«
    »Erstens nein und zweitens niemand.« Elsie wirft ein Bein in die Höhe und fasst die Zehen mit den Fingerspitzen. »Wenn ich was kriegen will, dann ein Engagement in der Girlsreihe bei Charell.«
    Vicky seufzt. »Girlsreihe war einmal. Ich kann mich nicht mal bücken, ohne vor Schmerz zu jaulen.« In ihre letzten Worte schrillt die Türklingel, sie zuckt zusammen. »Jetzt schon? Aber er …«
    Elsie geht zur Tür. »Na, dann gehe ich mal besser.« Im engen Treppenhaus stößt sie beinahe mit Harry zusammen. Mit demgroßen Paket, das Harry vor sich her trägt. So stehen sie im dunklen Gang voreinander, können nicht vor und zurück und sehen sich über das Paket hinweg an. Endlich stellt Harry das Paket auf die Stufen und drückt sich an die Wand. Elsie steigt über das Ding hinweg. Bevor sie um
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