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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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Mauer des Nikolaifriedhofs, der dem Kaufhaus gegenüberliegt. In den Zweigen über den Grabsteinen singen die Amseln. Nur jetzt nicht schlappmachen, Mädchen, flüstert sie, du wirst heute noch gebraucht. Sie hat Herrn Grünberg überredet, bei der Eröffnungsfeier mithelfen zu dürfen. Erst wollte er nicht, in ihrem Zustand. »Aber Herr Grünberg«, hat sie gesagt, »ich fühle mich blendend und muss bei der Feier dabei sein!« Dazu hat sie ihn angestrahlt, als ginge es um ihr Leben. Ging es ja auch. Sie muss an diesem Abend bei Harry sein. Nur konnte sie ausgerechnet das Herrn Grünberg nicht sagen. Er hätte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Die Tür zum neuen Kaufhaus, zu ihrem Arbeitsplatz, zu seiner Familie und seinem Sohn Harry.
    Auf der Kreuzung vor dem Kaufhaus Jonass stauen sich Automobile, Fahrräder und Menschen. Zur Eröffnung des ersten Kreditkaufhauses in Berlin strömen die Schaulustigen herbei und bilden eine Schlange vor dem Haupttor. Ein solcher Prachtbau muss Schätze bergen, und diese Schätze will man als Erster zu sehen bekommen. Es soll auch eine Tombola geben. Ein Büfett und Musik, am Abend ein Feuerwerk! Vicky hat den Platz vor dem Kaufhaus erreicht und schiebt sich durch die Menge zum Lieferanteneingang. Sie geht zum Aufzug für die Angestellten, um in die Chefetage zu fahren und sich von Herrn Grünberg an ihren Platz dirigieren zu lassen. Vielleicht begegnet sie dort Harry.
    Die Gittertür des Aufzugs schließt sich. Die Kabine fährt mit einem Ruck in die Höhe, das Kind in ihrem Bauch hüpft mit und der Magen dazu. Ihr wird übel. Sie muss sich zusammenreißen in Grünbergs Gegenwart, darf sich und Harry nicht verraten. Er ist der Junior in der Firma, sie nur eine kleine Angestellte,mit der er öffentlich per Sie verkehrt. Wenn sie auf dem Gang Harrys Stimme hört, seine Schritte, beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Und wenn er sie ansieht mit seinen grauen Augen, seinem spöttischen und zugleich herzlichen Lächeln, hämmert es so laut, dass es jeder hören muss. Ein Wunder, dass Herr Grünberg keinen Verdacht geschöpft hat. Wahrscheinlich kann er sich einfach nicht denken, dass sein Sohn, selbst noch nicht volljährig, schon Vater werden soll.
    Der Aufzug hält, wieder gibt es einen Ruck, die Tür öffnet sich, Abteilungsleiter Helbig stolpert herein. Vicky und Helbig blicken sich an, Gerd Helbig senkt den Kopf. Sein Blick bleibt auf Vickys Bauch haften, ihm treten Schweißperlen auf die Stirn. Das Kind versetzt der Bauchwand einen Tritt.
    »Was schauen Sie so entsetzt, Sie sind ja nicht der Vater«, sagt Vicky zu Abteilungsleiter Helbig, der rot anläuft. Der Aufzug ruckt und die Tür geht auf. Beide stürzen auseinander.
    Vor dem Chefzimmer bleibt Vicky stehen und lauscht, ob Harrys Stimme zu hören ist.
    »Fräulein Springer!«, schrillt es in ihrem Rücken. »Sie möchten sofort mit mir in die Küche kommen.«
    Die Personalleiterin, Frau Kurz, ist dagegen gewesen, dass Grünberg sie im Geschäft behielt. Sie ist auch dagegen gewesen, dass sie beim Fest half. Aber wo sie einmal da ist, soll sie ordentlich anpacken. In der Küche schnappt Vicky ein Tablett mit Kanapees und schiebt sich unter den Augen von Frau Kurz ein mit Ei belegtes in den Mund.
    »Ihr Einsatzplan!«, gellt es beim Hinausgehen hinter ihr her, doch Vicky hat selbst einen Plan.
    Als sie sich der Haupthalle des Kaufhauses nähert, hört sie das Stimmengewirr. Das Tor ist geöffnet und die Meute hereingelassen. In Paaren und Gruppen bestaunen die Menschen die Verkaufstische, überquellend von begehrenswerten Dingen. Dort ist eine festliche Tafel gedeckt, Porzellan mit Rosenmuster,böhmisches Kristall und Weintrauben aus Glas. An jeder Ecke steht ein Page in Uniform, der die Schätze bewacht. Arbeiterfamilien und Arbeitslose aus dem Scheunenviertel stauen sich um elektrische Bügeleisen und Eisenbahnen, Glockenhüte und französischen Wein. All diese Dinge, die in den letzten Jahren immer weiter aus ihrer Reichweite gerückt sind, wird es hier ab morgen »auf Pump« geben. Für ein Viertel des Kaufpreises konnte man sie nach Hause tragen, der Rest war auf Raten zu bezahlen. Das Kreditkaufhaus Jonass würde das Kaufhaus des Ostens werden.
    Der Herr über dieses Reich, Heinrich Grünberg, hält eine Ansprache. Neben ihm steht seine Frau Alice. Zerbrechlich sieht sie aus am Arm ihres Mannes und zugleich streng. Ob sie eine wie sie jemals als Schwiegertochter akzeptieren würde? Grünbergs Rede wird über
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