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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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Vielleicht ist Bernhard da oben. Und sie zieht es auch dorthin, auf das Dach dieses Hauses. Ganz spürbar zieht es in ihrer Brust.
    Auch damals, im Juni 1929, hatte das Gebäude schon eine Dachterrasse, mit einem Dachgartenrestaurant, und zur Eröffnung des Kaufhauses Jonass knallten die Sektkorken in den Himmel. Vielleicht hatte sie das Korkenknallen, das Sprudeln der Sektfontänen und das Gelächter missverstanden im Bauch ihrer Mutter. Hatte hinter der Bauchdecke gedacht, der ganze Trubel gelte ihrer Ankunft auf Erden.
    Über diesen Tag und über ihren richtigen, ihren unbekannten Vater wird sie nie mehr erfahren als das, was Vicky auf Band gesprochen hat kurz vor ihrem Tod, stockend erst und dann hastiger, vom Ende aufgerollt bis zum Anfang, die Geschichte von Vicky und Harry und ihrer eigenen Geburt. Inzwischen hat es sich vermischt – das, was ihre Mutter erzählt, und das, was sie nicht erzählt hat, bis zum bitteren Ende nicht, und womit sie selbst sich die Pausen und Lücken ausgemalt hat. Nun lässt sich das Ganze nicht mehr entwirren. Was ist echt, was ist später hinzugefügt, was retuschiert und was niemals wahr gewesen? So ist es nun mal mit den Geschichten, sagt sich Elsa und macht einen weiteren Schritt auf dem Weg Richtung Dachterrasse und Himmel. Und damit, so hofft sie, einen Schritt Richtung Bernhard.

    Die letzten Meter bis zum Eingang läuft er rückwärts. Wie er es in der Rehaklinik nach dem Herzinfarkt gelernt hat, rückwärtszulaufen. Eine gute Art, sich wegzubewegen, hat er damals gedacht. Man sieht genau, was man hinter sich lässt. Und nichts von dem, denkt er jetzt, was ich vor mir habe.
    Vorsichtig setzt Bernhard Schritt für Schritt. »Rückwärts und sich vergessen«, summt er. Um diese Straßenecke hat er in den vergangenen Monaten meist einen großen Bogen gemacht. Wenn er es richtig bedenkt, schlägt er seit fast zwanzig Jahren Haken, um hier nicht entlangzugehen. Die Torstraße 1 ist mit zu vielen Erinnerungen verbunden. Guten und schlechten. Aber als das Haus nach so vielen Jahren Leerstand eingerüstet worden ist, wollte er plötzlich, dass alles blieb und nichts sich änderte. Es gefiel ihm nicht, dass aus seinem und Elsas Haus jetzt etwas ganz anderes werden sollte.
    Vielleicht hat das etwas mit dem Altwerden zu tun. In den vergangenen Wochen hat er oft davon geträumt, wieder in das Institut zu gehen. So wie er es viele Jahre lang getan hatte. Jahre, in denen er zwischen der Redaktion seiner Zeitung und dem Institut hier im Haus gependelt war. Mit einer schweinsledernen Aktentasche in der Hand, in der sich tatsächlich immer Akten befanden. Und bis zum Ende seines Arbeitslebens hatte die Tasche eine eingedellte Brotbüchse aus Aluminium mit selbst geschmierten Stullen enthalten. Sein Körper steckte an jedem dieser Tage in einem Anzug, der nie wirklich gut saß.
    Immer ist er aufgewacht aus seinen Träumen, kurz vor dem Ziel, die graubraune Fassade mit den vielen Fensterreihen schon in Sicht. Jedes Mal blieb er stecken auf seinem Weg. Jedes Mal war er umgekehrt vor dem Eingang des Instituts und hatte die Flucht ergriffen.
    Doch vorgestern Nacht hat er nicht vom Institut, sondern vom Kaufhaus Jonass geträumt. Ist wieder ein kleiner Junge gewesen und mit Elsa durch die Etagen gelaufen, um Versteckenzu spielen. Weiße Wochen waren im Kaufhaus, Lichtgirlanden hingen von der Decke, die ganze Halle ein Glitzern und Funkeln. Elsa und er hockten hinter weißen Wäschebergen oder drapierten sich in meterlange Gardinen. Wie in einer Schneehöhle saß er in seinem Versteck unterm Tisch, hinter dem weißen Stoff, der bis zum Boden reichte. Schön warm war es hier, er hatte es nicht eilig, von Elsa gefunden zu werden. Doch dann hörte er Elsas Stimme, die nach ihm rief. Sich näherte, wieder entfernte und leiser wurde, immer leiser, bis sie kaum noch hörbar war.
    Dieser Traum hat den Ausschlag gegeben, heute hierherzukommen. Dabei hat er noch vor ein paar Wochen zu Elsa am Telefon gesagt, er werde auf keinen Fall kommen. Er schaffe es einfach nicht. Hat es mit seinem Herzen begründet. »Was ja keine Lüge ist«, sagt er laut und erntet einen amüsierten Blick von einer jungen Frau, die an ihm vorbeigeht. Vorwärts natürlich. »Lass uns zusammen hingehen, Bernhard«, hat Elsa gesagt, »es bleibt doch trotzdem unser Haus.« Das hat sie sich all die Jahre nicht abgewöhnt, »unser Haus« zu sagen, konnte es genauso wenig lassen wie das Rauchen. Jetzt, wo er daran denkt, sehnt er sich
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