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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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und magisch wie die Poststelle meiner Träume kann der Raum gar nicht sein. Vermutlich ist es jetzt eine Besenkammer. Und du?«
    Bernhard sieht plötzlich ängstlich aus. »Ich würd’s schon gern wissen. Was Wilhelm geschrieben hat, als er die Nacht hier unter dem Balken lag und nicht wusste, ob er lebend herauskommt. Aber bisher hab ich nichts entdeckt, war in allen Räumen. Bis auf den ganz hier oben.« Er nickt in Richtung des überdachten Barbereichs.
    »Gut«, sagt Elsa, »dann suchen wir jetzt zusammen.« Sie zieht ihn mit sich und spürt einen leichten Widerstand.
    »Ich weiß nicht«, sagt Bernhard. »Wenn er nun wirklich bloß Unsinn gekritzelt hat?«
    »Hat er nicht«, sagt Elsa, hängt sich bei Bernhard ein und lotst ihn über die Terrasse, durch die Glasschiebetür in die Bar. Sie nehmen die weißen Tische in Augenschein, die Sessel und die lange Bar mit den Barhockern in der Mitte des Raums. Die Wände an den Längsseiten des Raums sind aus Glas, kommen also für Wilhelms Inschrift nicht infrage. Bernhard sieht enttäuscht und erleichtert aus. Aber so schnell will Elsa nicht aufgeben. Wie manchmal beim Fotografieren, muss man vielleicht auch hier eine andere Perspektive einnehmen, um die Dinge richtig zu sehen. Also treten beide auf der anderen Seite wieder aus der Bar hinaus, auf eine weitere Terrasse, die im Schatten liegt, mit Blick auf den Innenhof. Plötzlich sind sie ganz allein.
    Bernhard betrachtet die Wand. Das Stück Außenwand auf dieser Seite, das nicht aus Glas, sondern aus Stein gebaut ist. Er geht langsam darauf zu. Tatsächlich haben sie diesen Teil der wieder freigelegten Wand im Originalzustand belassen. Unverputzt und mit den eingeritzten Inschriften. Bernhard versucht, die mal mehr und mal weniger lesbaren Schriftzüge zu entziffern. Sprüche, Frauennamen, »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«. Immer tiefer muss er sich bücken und schließlich auf die Knie gehen, bis er ganz unten auf einige kaum noch lesbare Worte stößt.
    Er wendet sich Elsa zu, die mit ein wenig Abstand hinter ihm steht, und winkt sie herbei. Auch Elsa geht nun neben ihm auf die Knie, und er zeigt auf die Inschrift und sieht sie erwartungsvoll an. Doch sie sitzt ausdruckslos da. Endlich wühlt sie in ihrer Handtasche, die sie auf dem Schoß hält, holt die Lesebrille heraus, setzt sie auf und beugt sich weit vor. »Bernhard! Ich will mit dir leben«, murmelt sie.
    Da knien sie nebeneinander und schauen und schweigen. Bernhard denkt, dass er ruhig heulen könnte. In seinem Alter ist alles erlaubt. Stattdessen kramt er sein Taschenmesser hervor und sagt zu Elsa: »Kannst du mal Schmiere stehen?«
    Elsa fragt nicht weiter nach, schaut sich um und stellt sich vor den hockenden Bernhard. Zum Glück sind sie noch immer allein, hierher scheint sich niemand zu verirren. Nach einer Weile, die Elsa sehr lang erscheint, will Bernhard sich aufrichten und sackt wieder zusammen. Er schafft es erst beim zweiten Anlauf, ächzend, wie alte Männer es tun, als sei es leichter, die Beine zu strecken, wenn man dabei stöhnt.
    Nun geht Elsa noch einmal in die Knie, um lesen zu können, was Bernhard über Wilhelms Worte in die Wand geritzt hat. Die Brille hat sie diesmal gleich aufgelassen, und als sie wieder aufsteht, geben ihre Knie ein gefährliches Knacken von sich. Sie schaut Bernhard an.
    »Das muss reichen für eine lange Geschichte«, sagt Bernhard und küsst Elsa auf den Mund. »Und jetzt gehen wir.«
    »Ja«, sagt Elsa und führt ihn noch einmal mit sich, aber nicht zum Ausgang, sondern auf die Seite der Dachterrasse, wo die untergehende Sonne den Horizont dunkelrot färbt. »Wenn’s am schönsten ist, soll man gehen, nicht?« Sie beugt sich weit über die Brüstung. »Oder fliegen.«
    Bernhard zieht sie zurück, zitternd und bleich im Gesicht. Sie lächelt ihn entschuldigend an, fischt einen Zettel aus der Tasche und faltet einen kleinen Papierflieger.
    »Den brauch ich nicht mehr«, sagt sie und wirft ihn hoch in die Luft. Im nächsten Augenblick wird er von einem Windstoß erfasst, und der Passierschein für Genossin Elsa Jonass segelt in den Himmel über Berlin.

Nachwort
    »Wenn Häuser Geschichten erzählen könnten, dann hat dieses den Stoff für einen ganzen Roman«, hieß es in der Berliner Zeitung vom 19.4.2007 über die Torstraße 1. Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, war auch ich dieser Meinung. Denn dieses Gebäude im Zentrum Berlins hat seit mehr als achtzig Jahren stets Zeittypisches verkörpert: 1928
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