Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
Vom Netzwerk:
bauen auf einem Podest ihre Instrumente auf. Auch zur Jonass-Eröffnung, hatte Vicky mit Tränen in der Stimme erzählt, spielte eine Tanzkapelle Walzer und Ragtime. Seltsam war diese Stelle aufdem Band, die sie selbst bis heute nicht anhören konnte, ohne zu weinen. Dabei gab es sehr viel traurigere Stellen. Sie nimmt ein Glas Prosecco vom Tablett, das eine junge Frau ihr mit einem Lächeln entgegenhält. Für einen Augenblick glaubt sie, unter der hellen Bluse der Frau einen gewölbten Bauch zu erkennen.
    Was hätte Vicky wohl zu alldem hier gesagt? Vielleicht wäre sie glücklicher gewesen, wenn die Torstraße 1 wieder ein Kaufhaus geworden wäre. Andererseits gingen die Kaufhäuser gerade reihenweise pleite, wenn sie es nicht schafften, sich als »Erlebniswelten« zu verkaufen. Ein Kaufhaus war heute nichts Schickes und Modernes mehr wie das Jonass vor achtzig Jahren, und Vicky war doch sehr für das Modische und Moderne gewesen. Da hätte ihr das Soho House Berlin vielleicht gefallen. Auch die Hotelzimmer hätte Vicky gemocht, die Sessel und Beistelltische im Stil der Dreißiger und Vierziger, die breiten Polsterbetten mit Kopflehnen in Muschelform, die Stehlampen mit Stoffschirmen, die altmodischen Telefone. Wie einer von Vickys und Elsies geliebten Hollywoodstars konnte man sich in den Zimmern fühlen, wie Greta Garbo oder Lauren Bacall. In einer frei stehenden Badewanne auf Löwenfüßen liegen und alte Platten hören. Die würden auch ihren Jonas entzücken, original alte Plattenspieler und Vinyl-LPs. Und damit es nicht zu altmodisch ausfiel, standen die Plüschsessel und Polsterbetten vor unverputzten Wänden und Säulen oder unter hypermodernen Lampen. Ein cooler Retro-Modern-Mix, so oder ähnlich würde es Stephanies und Nicks Tochter Livia sagen, die zum Erstaunen ihrer beiden Mütter ein richtiges Girlie geworden ist. Die Clubgebühren dagegen, über die hätten Vicky und Elsie sich mokiert. Gebühren, die dafür sorgten, dass Leute wie sie oder Wilhelm, Verkäuferinnen und Handwerker, nicht zum Club gehörten.
    Elsie hätte die Eröffnung fast noch erlebt. Neunundneunzig war sie im letzten Jahr geworden, dann hatte sie gemeint, man müsse es nicht übertreiben. Nun liegt sie, wie es seit beinahezwanzig Jahren verabredet war, auf dem Friedhof gleich neben Vicky. Vielleicht wäre das auch etwas für Bernhard und sie – ein gemeinsames Grab auf einem wiedervereinigten Friedhof. Einer von denen, durch deren Mitte die Mauer verlaufen war und die Toten getrennt hatte. Aber da all ihre Lieben im Westteil Berlins begraben liegen und Bernhards im Osten, wird die Mauer sie wohl über den Tod hinaus scheiden.
    Elsa versucht, vom Liegestuhl hochzukommen, und schafft es erst beim zweiten Anlauf. Ohne einen Stock als Stütze ist das gar nicht einfach. Altersgerecht sind die Möbel hier nicht, aber außer ihr scheint auch niemand von den ganz Alten da zu sein. Von denen, die sich noch an das Kaufhaus Jonass erinnern könnten. War nun Vickys letzter Wunsch in Erfüllung gegangen? Ihr Vermächtnis. Vickys letztes Band. Klar und deutlich hat sie inmitten all dieser Fremden die Stimme ihrer Mutter im Ohr. »Und wenn jemals, Erichs Prophezeiung zum Trotz, diese Mauer fällt, hab ich persönlich nur einen Wunsch. Sorgt dafür, dass das Jonass den Grünbergs zurückgegeben wird. Denen, die dann noch leben.«
    Was für ein unzuverlässiger Prophet Erich doch gewesen war! Nicht mal ein Dreivierteljahr hatte es gedauert, nach seiner Steht-noch-in-hundert-Jahren-Ansage, bis die Mauer gefallen war. Immerhin war das Haus nach all den Jahrzehnten an die Erben von Heinrich und Harry Grünberg zurückgegeben worden. Und auch wenn Vicky es sicher bedauern würde, war es ihr gutes Recht, es weiterzuverkaufen. Niemand von ihnen hatte je in Deutschland gelebt oder verspürte den Wunsch, dies zu tun, nach allem, was hier geschehen war. Das Kaufhaus Jonass kannten sie, wenn überhaupt, nur von Erzählungen und alten Fotos. Und sicher wäre Vicky froh gewesen, dass es wenigstens dieses Quäntchen Gerechtigkeit gab, die Rückgabe an die rechtmäßigen Besitzer. Froh, dass dieses Haus, nach fünfzehn Jahren Leerstand, zu neuem Leben erwacht.
    Auch Elsa ist froh darüber, obwohl sie sich gewünscht hat, dass die Torstraße 1 ein für alle zugänglicher Ort würde, nachdem zuerst die Nazis und später die Kommunisten das Gebäude okkupiert hatten. Ihre Bürgerinitiative für ein Haus der Geschichte, mit Ausstellungen, Führungen und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher