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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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anderen Stelle wieder über die Hauswand gekrochen. Elsa gefällt das, es passt zu dem Haus. Man denkt, die Vorstellung ist zu Ende, will die Arena verlassen – und eine Leuchtrakete zischt in den Himmel, das ganze Theater geht von vorne los. Na, das ganze hoffentlich nicht, denkt Elsa.
    Vor diesem verschlossenen Tor hatte ihre Mutter eines Tages gestanden, mit ihr, der fast Vierjährigen, auf dem Arm. Sie war zur Arbeit im Kaufhaus geeilt und hielt plötzlich im Laufschritt inne. Viele Menschen drängten sich auf dem Platz vor dem Kaufhaus Jonass, doch niemand näherte sich dem quer über das Tor geklebten Plakat. Männer in Stiefeln und Uniformen standen unter dem Plakat und schrien. Gelächter schallte aus der Menge. Sie wollte weg von den brüllenden Männern und strampelte mit den Beinen, doch ihre Mutter rührte sich nicht und presste sie an sich, dass ihr die Luft wegblieb. Sie zog ihreMutter an den Haaren und schlug ihr mit der kleinen Faust ins Gesicht. Da drehte sich die Mutter um, weg von dem Tor, weg von dem Plakat, weg von den Gestiefelten, und begann zu rennen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Und Elsa hatte damals gedacht, dass ihre Mutter weinte, weil sie sie geschlagen hatte. Den ganzen Tag hatte sie es gedacht und noch jahrelang.
    »Stehen Sie auf der Liste?«
    »Auf der Liste?« Elsa schaut auf verschränkte Arme und ein Gesicht, das ihr zu verstehen gibt: bis hierher und nicht weiter.
    »Auf der Gästeliste. Einlass nur für Clubmitglieder und geladene Gäste.« Der Blick des Türstehers wandert über ihre weißen Haare, das faltige Gesicht und ihren Mantel, der in etwa so alt sein dürfte wie er selbst.
    Elsa umklammert den Passierschein in ihrer Hand. Wenn Sie jetzt das Zauberwort wüsste, das Passwort, das ihr Einlass verschafft. »Ich bin …«
    »Die Lady ist meine Grandma.« Eine Stimme in ihrem Rücken, amerikanischer Akzent. »Also seien Sie besser nett zu ihr.« Elsa wird am Arm gefasst und am Türsteher vorbeigeführt, der sie beide durchlässt und den jungen Amerikaner respektvoll grüßt. Der junge Mann hilft Elsa aus dem Mantel, reicht ihn der Garderobiere, nimmt den Chip entgegen und drückt ihn ihr in die Hand. Er hat graue Augen, ein spöttisches und zugleich herzliches Lächeln, das ihr irgendwie bekannt vorkommt, wie aus ferner, längst vergangener Zeit. Aber woher sollte sie diesen jungen Ami schon kennen?
    »Ich bin … hier geboren, das wollte ich sagen.« Doch der junge Mann ist verschwunden. Elsa spricht in die Luft. »Hier in diesem Haus. Heute vor achtzig Jahren, auf den Tag genau!«
    Sie hat das Tor passiert, auch ohne Passierschein. Doch nun, wohin? In der Eingangshalle stehen die Gäste in kleinen Grüppchen beisammen, lauter junge, auf lässige Weise schick gekleideteMenschen. Einige haben es sich in einer Ecke in Clubsesseln bequem gemacht, über ihren Köpfen schwebt auf einem großen Bild ein mit schwarzen Strichen gezeichneter Hai. Ob das der berühmte Finanzhai ist, fragt sich Elsa, von dem man in Zeiten der Finanzkrise täglich in den Zeitungen liest? Und ob man unter dem Wappen des Finanzhais wohl rauchen darf? Sonst ist es ja überall verboten neuerdings. Soll sie es riskieren, sich einfach eine anstecken? Lieber nicht, sonst geht bestimmt ein Rauchmelder los. Und die Blicke, die man da erntet. Dabei kann sie nichts dafür, es ist ein Geburtsfehler. Wenn einem eine alte Hexe zur Begrüßung auf Erden Rauch ins Gesicht geblasen hat, noch bevor man Sauerstoff atmen konnte, was soll man erwarten? Hier in diesem Haus ist es gewesen, die rauchende Alte als Hebamme und die Poststelle des Kaufhauses als Kreißsaal. Aus dem Mutterbauch auf den Packtisch, auch so etwas prägt – ihre Leidenschaft für Briefe, Briefkuverts, Briefträger hat sie ihr Leben lang behalten.
    Heute will sie ihn endlich finden, den kleinen Raum in diesem riesigen Haus, in dem sie das Licht der Welt erblickt hat. Wird wohl Neonlicht gewesen sein. Gab’s das damals schon, Neonlicht? Ihre Mutter hat ihr die Poststelle nie gezeigt, solange sie als Verkäuferin im Jonass arbeitete und Elsa als Kind dort ein und aus gehen und nach Ladenschluss mit Bernhard zwischen Kleiderständern und Möbeln herumtoben und spielen durfte. Bevor die Hitlerjungen und -mädel kamen.
    Doch nicht nur sie, auch Bernhard hat etwas zu suchen in diesem Haus, das sein Vater mitgebaut hat. Ein Zeichen hat er hinterlassen, das seinen Sohn betraf, und sein Leben lang ein Geheimnis daraus gemacht. Und Bernhard hat sein
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