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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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Elsas Vater ist ein Herr Unbekannt.«
    »Elsas Vater?« Harry schaut verständnislos. »Wieso Elsa? Wir wollten ein Mädchen doch Josephine nennen. Nach der Baker.« Vicky schüttelt den Kopf. »Oder Anita. Nach der Berber«, versucht es Harry weiter.
    »Wollten wir?« Vicky steht auf und geht mit dem Kind auf dem Arm auf und ab. »Als das Mädchen geboren wurde, war Herr Unbekannt nicht da. Als es im Krankenhaus lag und fast gestorben ist, kam Herr Unbekannt nicht zu Besuch. Er war auch vorher nicht mit der Mutter beim Arzt und hat eine Wiege ins Zimmer gestellt. Das alles hat ein Fräulein Elsie getan. Und so heißt das Mädchen nun Elsa.«
    »Elsie! Sie hat mich Mistkerl genannt.«
    »Wenn du der Kerl meiner besten Freundin wärst, würde ich dich auch so nennen«, sagt Vicky.
    Harrys Miene hellt sich auf. »Ja, nicht wahr, was habe ich doch für ein Glück!« Er gibt Vicky einen Kuss. »Dass ich nicht der Kerl deiner besten Freundin bin. Nein, ich bin deiner, und darum ist mein Vorname auch nicht Mist«, flötet Harry und steht kurz darauf mit dem Riesenpaket im Zimmer. Er geht von der Last in die Knie.
    »Um Himmels willen, was ist da drin?« Vicky mustert den Karton, um den eine rosa Schleife gebunden ist.
    »Rate!«
    »Ein Kinderwagen!« Kopfschütteln. »Schaukelpferd?« Kopfschütteln. »Puppenhaus?«
    »Du kommst nicht drauf!«, ruft Harry. »Du-kommst-nicht-drauf!« Er schiebt sie durch die Tür in die Küche. »Nicht gucken!« Nach einigen Minuten Geraschel und Gepolter ertönt nebenan Musik. »Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir. Was braucht man beim Küssen von Obst was zu wissen. Da ist doch nicht Zeit dafür!«
    Vicky schießen Tränen in die Augen. Es ist unglaublich, nicht zu fassen. Was für ein verdammter Idiot! Ein Grammofon! Ein ganzer Stapel Schallplatten. Ist das Harrys Vorstellung von einer Grundausstattung für Mutter und Säugling? Sie weiß wirklich nicht, was sie zuerst zerkratzen soll, Harrys grinsendes Gesicht oder die rotierende Platte. Harry zieht sie zu sich in die Stube, wiegt sich mit ihr und der schlummernden Elsa zur Musik. Dreht sich langsam mit ihnen im Kreis und schaut so begeistert, als hätte er alles soeben selbst erfunden und hergestellt: die Frau, das Kind, das Grammofon, Bananen, Gott und die Welt.
    Vicky befreit sich aus Harrys Armen, legt das Kind in die Wiege und deckt es zu. Dann geht sie zum Grammofon, stellt es aus und nimmt die Platte vom Teller. Harry schaut enttäuscht wie ein kleiner Junge vor dem abgeschmückten Weihnachtsbaum. Oder verloschenen Chanukkaleuchter in seinem Fall.
    »Shimmy geht noch nicht wieder«, sagt sie und legt eine neue Platte auf. Ein leises Lied vom kleinen Glück. Irgendwo in der Welt, irgendwann. Langsam tanzen sie, Wange an Wange, bis ihr der Schmerz in den Unterleib fährt. Sie lässt Harry los, geht zur Tür hinaus, eine halbe Treppe tiefer zur Toilette. Dort sitzt sie und fühlt heißes Blut aus sich heraustropfen. Endlich hört es auf, und sie legt eine neue dicke Wattebinde in die Unterhose. An der Wohnungstür schaut ihr Harry entgegen. Seine Begeisterung ist in Besorgnis umgeschlagen.
    »Wie geht es dir?«, fragt er, und diesmal sind es die richtigen Worte.
    Sie liegen in Kleidern auf dem Bett, klammern sich aneinander und wollen sich küssen, doch es kommt nur ein Schluchzen heraus. Endlich trocknet Harry ihre und seine Tränen mit einem Zipfel des Bettlakens. Vielleicht ist das mit dem Kind ja doch keine schlechte Sache, denkt er. Man liegt bei seiner Frau, daneben schläft friedlich das Kindchen … Er beugt sich zu Vicky und nähert sich ihren Lippen, da ertönt aus der Wiege neben dem Bett ein mörderisches Geschrei. Vicky fährt hoch und stößt mit dem Kopf gegen seinen. »Au!«, schreit Harry, doch er wird, im Gegensatz zu dem kleinen Ungeheuer, nicht mit Küssen bedeckt und getröstet.
    Vicky packt die kleine Elsa in den Kinderwagen. Die kann schon alles in den Mund nehmen, fast alles wieder ausspucken, mit klebrigen Fingern befingern und mit Gejuchze von sich schleudern. Es wird Zeit, dass sie ihrem Geburtsort, dem Arbeitsplatz ihrer Mutter und ihrem »ungesetzlichen« Großvater vorgestellt wird. Auf zum Jonass! Vicky zieht Elsa eine Mütze gegen den kühlen Herbstwind über den kahlen Kopf und sieht ihrer Tochter noch einmal prüfend ins Gesicht. Ist da auch wirklich keine Ähnlichkeit mit Harry, die ihn verraten könnte? Nein, auch Elsie hat es ihr versichert. Elsa sieht weder ihremVater noch ihrer
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