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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel
Autoren: Nina Sankovitch
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ich sein!«
    Ich war diejenige, die mit dem Wissen zurückblieb, aber es war zu spät, und mein Wissen hat meiner Schwester nicht helfen können. Was sollte es mir jetzt noch nützen? Jeder Tag brachte neue Fragen und keinen Rat, keine Antworten. Was hatte mein Vater gemeint, als er immer wieder »Drei in einer Nacht« murmelte? Warum hatte ich zu meiner Mutter gesagt, die Tote vor ihr sei nicht mehr ihre Tochter? Wie hatte ich ihr das antun können? Und wie sollte ich meinen Kindern den Tod erklären, ohne sie ihrer Unschuld zu berauben? Wie sollten wir je wieder hinaus in die Welt gehen und leben, lachen, reden, Pläne schmieden?
    Die Fragen quälten mich, und ich wusste keine Antwort. Die Fragen türmten sich übereinander, stürmten immer heftiger auf mich ein, bis mein Kopf zu platzen drohte und mein Rücken sich unter ihrer Last beugte. Sie peinigten mich unaufhörlich und brachten die Trauer um den Verlust meiner ältesten Schwester immer wieder zurück.
    Trauer wurde für mich zu dem andauernden, schmerzhaften Bewusstsein, dass ich meine Schwester nicht vor dem Wissen um ihren nahenden Tod beschützen konnte. Nur ich hätte unter diesem Wissen leiden sollen: »Solange ich lebe, möchte ich die Wissende sein!« Alle anderen wollte ich davon befreien, Anne-Marie eingeschlossen.

2
Die Rückkehr zum Bücherbus
Solange das Denken besteht, sind Worte leben-dig, wird Literatur zum Ausweg – nicht aus dem, sondern ins Leben.
PALINURUS , Das ruhelose Grab
      Nach Anne-Maries Tod wurde ich eine zweigeteilte Frau. Ein Teil von mir war immer noch im Krankenhaus, an dem Nachmittag, als sie starb. In dem Krankenzimmer mit dem verstellbaren Bett, Sessel, Fernseher und den Bücherstapeln. Mit dem silberfarbenen Ständer, an dem Tropfbeutel mit Flüssigkeiten, Schmerzmitteln und dem schrecklichen braunen Zeug hingen, das aus dem blockierten Magen meiner Schwester lief. Der Tablettwagen voller Zeitungen und Götterspeise. Das zusammengerollte Paar Socken, das ich mitgebracht hatte, das aber für die angeschwollenen, blauen Füße meiner Schwester zu klein war. Die Bürste mit den dunkelblonden Haaren darin.
    Und dann gab es diesen anderen Teil von mir, der aus dem Krankenhaus gestürmt war und nie zurückschaute, aus Angst vor dem Bild, das sich ihm bieten würde. Am Tag, als Anne-Marie starb, fing ich an zu rennen. Ich floh vor dem Tod, vor dem Schmerz meines Vaters und der Trauer meiner Mutter, vor Verlust, Verwirrung und Verzweiflung. Ich hatte Angst vor dem Tod, Angst, auch mein Leben zu verlieren. Ich hatte Angst vor dem, was der Tod mit der zurückgebliebenen Familie tat, vor Einsamkeit und Hilflosigkeit. Die schrecklichen Zweifel: Hätten wir es mit anderen Ärzten, anderen Behandlungsmethoden, anderen Medikamenten versuchen sollen?
    Ich hatte Angst vor einem Leben, das nicht lebenswert war. Warum durfte ich leben, wenn meine Schwester sterben musste? Ich war jetzt für zwei Leben verantwortlich, für meines und ihres, und das war eine verdammt schwere Aufgabe. Ich musste das Leben bis zum Äußersten ausschöpfen. Wenn meine Schwester sterben musste, würde ich mit doppelter Kraft leben. Und wenn ich eines Tages ebenfalls sterben würde, wollte ich nichts versäumt haben. Ich drehte das Tempo immer stärker auf. Ich trieb mich zu Plänen, Unternehmungen und Reisen an. Ich wollte, dass meine Eltern wieder lächelten und meine Kinder von Gedanken an den Tod frei waren. Ich wollte Jack lieben und ausgedehnte Spaziergänge mit Natasha unternehmen. Ich musste all das wiederherstellen, was durch Anne-Maries Tod verloren gegangen war.
    Ich engagierte mich als Trainerin für Martins Fußballmannschaft und half Peter bei seinem Lego-Roboterteam. Ich wurde Vorsitzende im Elternbeirat. Ich erlegte mir ein strenges Fitnessprogramm auf und ließ sämtliche Körperregionen vom jeweiligen Facharzt durchchecken: Hals, Nase und Ohren, Unterleib und Brust, Augen, Knie (Arthritis von einer alten Fußballverletzung), Dickdarm. Zwei Jahre vor Anne-Maries Tod hatte ich aufgehört zu arbeiten, und jetzt würde ich mit Sicherheit nicht in den Beruf zurückgehen. Ich musste für alle in meiner Familie da sein, vom Jüngsten (Martin) bis zum Ältesten (mein Vater). Jeden wollte ich umsorgen und ermutigen.
    Drei Jahre im ständig anziehenden Tempo, bis mir klar wurde, dass ich es nicht schaffte. Ich konnte der Trauer nicht entrinnen. Ich konnte weder mir noch sonst jemandem ein langes Leben garantieren. Ich konnte nicht alle um mich herum
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