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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel
Autoren: Nina Sankovitch
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Die fünfte Klasse war unser Gilligans-Insel -Jahr. Jeden Tag guckten wir nach den Hausaufgaben eine Folge von Gilligans Insel im Fernsehen, und dann spielten wir, wir wären auf einer einsamen Insel gestrandet. Ich war immer Ginger und Carol immer Mary Ann, und im Grunde ging es hauptsächlich darum, dass wir beide in den Professor verliebt waren. Alle unsere Abenteuer auf der einsamen Insel drehten sich um den Professor. Und da wir ja nun einmal Freundinnen, beste Freundinnen, waren, bekamen wir den schmalen, aufrechten Professor, der bei unseren nachmittäglichen Spielen meist von einem Türrahmen repräsentiert wurde, beide. Wir knutschten den Türrahmen ab und lachten uns dabei scheckig. Der Gedanke, dass er eine von uns, Ginger oder Mary Ann, vorziehen oder womöglich eine ganz andere finden könnte (ha – doch nicht auf einer einsamen Insel), kam uns nie. Wir waren vorpubertär, unschuldig und glücklich.
    Und dann wurde von einem Tag auf den anderen alles anders. Carol zog so weit weg, dass wir uns nicht mehr spontan besuchen konnten. Unsere Spielnachmittage mussten geplant werden, Eltern, Autos und Termine wurden erforderlich. Als die Sommerferien begannen, blieb ich in der alten Nachbarschaft mit meinen alten – aber nicht besten – Freundinnen zurück, während Carol in der neuen Umgebung neue Freunde fand. Und sehr schnell hatte sie eine neue beste Freundin. Der Professor und ich waren für sie nicht mehr von Interesse.
    Die Einsamkeit jenes Sommers überstand ich nur dank meines Buchs Harriet, Spionage aller Art . Harriet wurde meine neue beste Freundin. Gilligans Insel konnte ich nicht allein spielen, aber ich konnte alleine Beschattungen durchführen. Das entsprach sogar einer von Harriets Grundregeln als Detektivin. Das Alleinsein war auf einmal gar nicht mehr so schlimm. Ich trug jetzt immer ein Notizbuch bei mir und schrieb meine Beobachtungen auf. Sehr viel Spionage betrieb ich allerdings nicht. Meine Schwestern bekamen schnell mit, was ich mit meinem Notizbuch, meinem Plastikfernglas und Harriet, Spionage aller Art im Schilde führte. Sie erzählten es meiner Mutter, die mir ganz ruhig einen kleinen Vortrag über die Privatsphäre unserer Nachbarn hielt. Das war für mich kein Problem. Es war mir sowieso wichtiger geworden, mir meine Gedanken zu notieren, als unseren langweiligen Nachbarn nachzuspionieren. Wieder und wieder las ich Harriet, Spionage aller Art und wurde an einen anderen Ort versetzt, in eine Welt, in der ein Mädchen meines Alters wohnte, das gern las und schrieb und komische Sachen aß, genau wie ich. Harriet nahm mich mit in ihre Welt, in der Ol’ Golly mit uns Kindern redete, als ob wir groß und schlau wären, und uns wunderbare Dinge von Schriftstellern wie Henry James und Dostojewski erzählte. In dieser Welt gab es viel Freiheit und Tomatenbrote. Als Harriet sich bei ihren Freunden schrecklich unbeliebt machte, wollte ich nicht, dass sie sich wieder mit ihnen vertrug. Ich wollte, dass sie allein war, genau wie ich.
    In jenem Sommer flogen meine Mutter und ich Mitte Juli nach Belgien. Meine Großmutter hatte Krebs und lag im Sterben, und meine Mutter wollte sich um sie kümmern. Ich durfte mitkommen, weil ich als Zehnjährige noch zu klein war, um unbeaufsichtigt zu Hause zu bleiben, und wahrscheinlich war meiner Mutter meine Trauer um Carol nicht entgangen. Sie wollte auf mich achtgeben. Im August sollten mein Vater und meine älteren Schwestern zu uns stoßen, und gemeinsam würden wir Verwandte in Polen besuchen. Ich freute mich auf die Reise nach Belgien, weil ich nicht begriff, wie krank meine Großmutter wirklich war. Ich saß im Flugzeug und fühlte mich sehr sicher, mit meiner Mutter neben mir und Harriet , meinem Notizbuch und meinem Kuschelschwein – geliebte Piggy – zwischen uns auf dem Sitz.
    Ich weiß noch, wie ich am Bett saß, in dem meine Großmutter lag, schwer krank, aber immer noch lächelnd, und mich verwöhnen wollte. »Wenn ich wieder gesund bin, dann gehen wir zwei zusammen etwas Schönes kaufen, ja?«, fragte sie liebenswürdig. Ihr Englisch klang reizvoll-fremdartig und trällernd. Aber sie wurde nicht wieder gesund. Ich erinnere mich nicht daran, ob mir jemand erzählte, dass sie gestorben sei. Ich weiß nur noch, dass meine Tante mit mir für die Beerdigung einkaufen ging: einen dunkelblauen Rock, einen weißen Pullover, schwarze Schuhe.
    Kurz vor der Beerdigung bekam ich fürchterliche Kopfschmerzen und musste mich mehrmals übergeben.
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