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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel
Autoren: Nina Sankovitch
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Mein Großvater war Arzt und verabreichte mir ein Beruhigungsmittel, sodass es mir besser ging und ich an der Trauerfeier teilnehmen konnte. Ich saß bei meiner Mutter und blieb allein in der Bank zurück, als sie nach vorn zum Sarg ging. Meine Mutter weinte, das einzige Mal in diesem Sommer, dass ich sie weinen sah, aber ich weinte nicht – ich war ziemlich betäubt von dem Schmerzmittel.
    In den Tagen danach zeigte meine Mutter mir Antwerpen. Wir gingen alle Wege zu Fuß. Ich genoss die gemeinsame Zeit mit ihr, die Ausflüge in den Zoo, zum Hafen, zum Rubens-Haus, in dem viele seiner Gemälde hingen. Die blau-weißen Kacheln rund um das offene Herdfeuer in der Küche gefielen mir besonders: Auf jeder Kachel war eine andere Miniaturszene aus dem Leben zu sehen. Nachmittags saßen wir in einem Café, teilten uns eine puderzuckerbestäubte Waffel, meine Mutter trank einen Kaffee und ich eine heiße Schokolade. Ich schrieb alles in mein Notizbuch, Gedichte und Gedanken und das, was wir an diesem Tag gesehen hatten. Harriet war immer bei mir. Meine Mutter und meine Tante kauften mir neue Bücher, aber ich kehrte immer wieder zu den besten Stellen aus Harriet, Spionage aller Art zurück, zum Beispiel zu der Szene, in der Harriet beschreibt, wie sie in »ihre Lieblingsmilchbar geht, um eine Schokolade zu trinken«, und dort ihr Interesse an den Gesprächen anderer Leute entdeckt: »Harriet hatte ein Spiel erfunden: Sie versuchte, aus der Unterhaltung zu erraten, wie die Leute aussahen, und erst dann drehte sie sich um und schaute nach, ob sie richtig getippt hatte.«
    Meine Mutter war gut im Belauschen anderer Leute, aber ich war noch besser darin und erzählte ihr immer lustige Dinge, die ich aus den englischsprachigen Unterhaltungen an den Nachbartischen aufgeschnappt hatte. Dann drehten meine Mutter und ich uns nach den Paaren und Familien um, die wir belauscht hatten, und schmunzelten hinter vorgehaltener Hand.
    Im August trafen mein Vater und meine Schwestern in Belgien ein. Wir fuhren durch halb Europa, nach Polen, zu den Brüdern meines Vaters, die er seit dreißig Jahren, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nicht mehr gesehen hatte. Alles war auf dramatische Weise anders, als wir von Westdeutschland aus hinter den Eisernen Vorhang gelangten. Die gepflegten Häuser, sauberen Kopfsteinpflasterstraßen und die moderne Autobahn wichen einer deprimierend grauen Symmetrie ewig gleicher Plattenbauten, dazwischen holprige Straßen und lang gestreckte Felder, die mit alten Treckern oder von Hand bearbeitet wurden.
    Zuerst besuchten wir den ältesten Bruder meines Vaters, der auf einem ehemaligen Gutshof wohnte und arbeitete, in dem sich jetzt eine Großgärtnerei befand. Das Anwesen war mittlerweile zwar heruntergekommen, wirkte aber immer noch beeindruckend mit den breiten Blumenrabatten, die sich in alle Richtungen erstreckten. Neben dem Haus gab es einen kleinen Gemüsegarten. Zu den ausgedehnten Mahlzeiten aßen wir Salat aus frisch gepflückten Tomaten und Gurken. Alle lächelten fortwährend und redeten in einer Sprache, die meine Mutter ausnahmsweise einmal nicht verstand. Sie nickte nur und strahlte, und wir Kinder taten es ihr gleich.
    Ein paar Tage später fuhren wir weiter nach Krakau, um einen anderen Bruder meines Vaters zu besuchen. Seine Zweizimmerwohnung war mit Vasen, Fotos, Schalen, Gemälden und Büchern vollgestopft, die Möbel waren bunt zusammengewürfelt. Wieder wurde viel und ausgiebig gegessen (Brot und Wurst), viel gelächelt und viel in einer mir fremden Sprache geredet. Ich unterhielt mich mit Natasha und Anne-Marie und mit der Lektüre von Harriet, Spionage aller Art . Wir Schwestern schliefen zusammen mit meiner Tante im größeren der beiden Betten. Meine Eltern schliefen in dem anderen, schmalen Bett.
    Meine Tante war ziemlich dick, und wenn sie sich auf der unebenen Matratze umdrehte, gerieten meine Schwestern und ich ins Rollen. Anne-Marie griff über mich hinweg, damit ich nicht aus dem Bett fiel. Ohne sie wäre ich vermutlich auf den Boden gepurzelt. Mit einer Hand klammerte ich mich an ihr fest, mit der anderen an Piggy. Wir drei Mädchen schliefen kaum.
    Wir verließen Polen, fuhren Richtung Norden durch die DDR und wollten über Berlin zurück nach Westdeutschland. Eigentlich wurden Touristen angehalten, Ost-Berlin vollständig zu umfahren. Der Grund wurde uns klar, als wir durch die Straßen Ost-Berlins fuhren. Es kam uns kleinen US-Bürgern vor, als hätten wir unbemerkt die
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