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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel
Autoren: Nina Sankovitch
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Weglaufen hatte nicht geholfen; jetzt würde ich es mit Lesen versuchen. Ich würde auf Connollys Versprechen bauen, dass »Worte lebendig« sind und »Literatur zum Ausweg wird – nicht aus dem, sondern ins Leben«.
    Das Lesen würde mir Disziplin abverlangen. Natürlich würde ich es aus Begeisterung tun, aber einen Zeitplan brauchte ich trotzdem. Ohne feste Vorgaben würde der Rest des Lebens angeschlichen kommen und mir die Zeit stehlen, und ich würde nicht so viel lesen, wie ich eigentlich wollte oder mir vorgenommen hatte. Den Ausweg würde ich nur finden, wenn ich die Bücher ganz oben auf meine Prioritätenliste setzte. Es gibt immer Staub, der gewischt, und Wäsche, die zusammengelegt werden muss; immer muss Milch gekauft, Essen gekocht und Geschirr gespült werden. Doch ein Jahr lang würde mich nichts von alledem vom Lesen abhalten. Ich schenkte mir ein Jahr, in dem ich nicht rennen, nicht planen, nicht versorgen würde. Ein Jahr voller Keins : keine Sorgen, keine Kontrolle, kein Geldverdienen. Natürlich könnte unsere Familie ein zweites Einkommen gut gebrauchen, aber wir kamen jetzt schon so lange mit einem Gehalt zurecht, dass wir es auch noch ein Jahr länger schaffen würden. Wir würden auf Überflüssiges verzichten und uns an dem erfreuen, was wir hatten.
    Ich hatte vor, an meinem sechsundvierzigsten Geburtstag mit meinem »Ein-Buch-am-Tag«-Projekt zu beginnen. An meinem Geburtstag würde ich das erste Buch lesen und am nächsten Tag meine erste Rezension schreiben. Die Regeln für mein Lesejahr waren einfach: Ich durfte nicht mehr als ein Buch desselben Autors lesen, ich durfte keine bereits gelesenen Bücher wiederlesen, und über jedes Buch, das ich las, würde ich etwas schreiben. Ich wollte neue Bücher und mir unbekannte Schriftsteller sowie Bücher meiner Lieblingsautoren entdecken, die ich noch nicht kannte. Krieg und Frieden war nicht drin, aber Tolstois letzte Novelle Der gefälschte Coupon sehr wohl. Ein Auswahlkriterium war, dass diese Bücher auch Anne-Marie interessiert hätten und dass wir sie gemeinsam gelesen hätten, wenn das noch möglich gewesen wäre. Bücher, über die wir geredet, gestritten und vielleicht in manchen Fällen einer Meinung gewesen wären.
    Im Sommer vor meinem sechsundvierzigsten Geburtstag hatte ich eine Website für Büchertausch auf die Beine gestellt – ein Forum, in dem Leute, die alte Bücher loswerden wollten, und Leute, die ganz bestimmte Bücher suchten, zueinander fanden. Auf dieser Website würde ich Aufzeichnungen über mein Lesejahr veröffentlichen. Die Homepage hieß jetzt schon »Read All Day« (Den ganzen Tag lang lesen), ein Vorgeschmack auf das Leben, das ich von nun an führen würde. Perfekt. Alle Eltern mit Schulkindern wissen, wie unglaublich viel Wert Bibliothekarinnen und Lehrer darauf legen, dass Kinder jeden Tag lesen. Ich bin ganz ihrer Meinung, aber warum sollte das nicht auch für Erwachsene gelten? Tägliches Lesen tut auch Erwachsenen gut! Mein intensives Lesejahr sollte mir die Flucht in andere Sphären ermöglichen, aber mithilfe meiner Website wollte ich auch anderen einen Anreiz zum Lesen bieten. Das Motto meiner »Read All Day«-Site war: »Gutes erfährt, wer gute Bücher liest.« In diesem Jahr würde sich erweisen, ob das stimmt.
    Ich richtete mir im Erdgeschoss ein Zimmer neben der Küche ein. Ein Klavier und Georges Tuba standen darin neben ein paar ausrangierten Blockflöten und alten Notenbüchern. Es gab auch zwei Bücherregale, auf denen ich Platz für die Bücher schuf, die ich mir aus der Bibliothek, aus Buchhandlungen und von Verwandten besorgen würde. Ich stibitzte einen mit Farbe verschmierten Holztisch aus dem Spielzimmer und stellte den Computer darauf, den mir meine Stieftochter Meredith vererbt hatte, als sie sich einen Laptop zulegte. Ein großer Sessel stand bereits in dem Zimmer, und ich sann über sein Schicksal nach.
    Der Sessel sah älter aus, als er tatsächlich war, hatte aber in den dreizehn Jahren bei uns auch viel erlebt. Jack hatte ihn wenige Tage vor Michaels Geburt gekauft. Damals war es das eleganteste Möbelstück in unserer winzigen Wohnung gewesen: Mit seiner dicken elfenbeinweißen Polsterung, den geschnitzten Mahagonibeinen, weich gepolsterten Armlehnen und der anmutig geschwungenen Rückenlehne hatte er einfach großartig ausgesehen. Aber weiß ? Es war klar, dass dieser Sessel angesichts eines filzstiftbewehrten Einjährigen und bald eines zweiten Babys nicht lange weiß
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