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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel
Autoren: Nina Sankovitch
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Grenze zu einer anderen Welt passiert. Unser glänzendes Westauto wirkte wie ein buntes Feuerwerk an einem trüben Himmel. Die wenigen Menschen, an denen wir vorbeifuhren, blieben stehen und sahen uns nach. Im Wagen wurde es mucksmäuschenstill, und wir fuhren schweigend durch noch vom Krieg zerstörte Viertel, die im schwachen Licht vereinzelter Straßenlaternen lagen. Nur Checkpoint Charlie, der Grenzübergang nach West-Berlin, war hell erleuchtet und strahlte in den dunklen Himmel. Vom Dach einer länglichen Baracke aus waren über die ganze Breite der Straße Hunderte von Suchscheinwerfer auf uns gerichtet, die beim Näherkommen immer wieder über unser Auto strichen. So wirkte es zumindest auf mich.
    Die Grenzbeamten forderten uns auf, anzuhalten und auszusteigen. Wir Kinder wurden von unseren Eltern getrennt und in einen kleinen Raum in der Baracke gebracht. Mir kam es vor, als hätten wir dort stundenlang eng aneinandergeschmiegt in einer Ecke gestanden und gewartet. Als wir endlich wieder hinausgeführt wurden, standen unsere Eltern steif neben dem Auto, das von oben bis unten durchsucht wurde. Unsere Koffer stapelten sich auf dem Bürgersteig, alle Türen und der Kofferraum waren aufgerissen. Ein Grenzbeamter lehnte sich so weit in den Kofferraum, dass er halb im Auto verschwand. Ein anderer umrundete den Wagen mit einem Spiegel auf Rädern,und ein dritter kniete auf dem Vordersitz und zog die Polster auf dem Rücksitz auseinander. Ein vierter Beamter öffnete die Motorhaube und starrte in die Eingeweide des Autos.
    »Was suchen die da?«, fragte ich.
    »Psst!« Meine Mutter schüttelte nur mit zusammengepressten Lippen den Kopf. Einer der Beamten drehte sich um und starrte mich an, die Miene verschlossen, der Blick undurchdringlich. Als die Durchsuchung des Autos beendet war, erhielten wir unsere Reisepässe zurück, durften wieder einsteigen und über die Grenze fahren. Wir passierten das Niemandsland zwischen Ost und West, den fünfzig Meter breiten Todesstreifen, auf dem der Asphalt unter den Suchscheinwerfern glitzerte. Auf beiden Seiten des Asphaltstreifens herrschte Finsternis, vor uns lockten die Tore West-Berlins. Endlich beantwortete unser Vater meine Frage.
    »Sie haben nach Leuten gesucht. Sie wollten wissen, ob wir irgendwelche Verwandten im Auto versteckt haben.«
    »Und wenn sie jemanden gefunden hätten?«, wollte ich wissen.
    »Dann wäre derjenige mitgenommen und womöglich umgebracht worden.« Mein Vater blickte wütend in den Rückspiegel. Aber er sah nicht uns Mädchen auf dem Rücksitz an, sondern den hinter uns liegenden Grenzposten.
    Ich sah, wie meine Mutter meinem Vater einen warnenden Blick zuwarf, aber er war nicht zu bremsen. »Jeden Tag sterben Menschen, die zu fliehen versuchen, die versuchen, in den Westen zu kommen. Versteht ihr das?«
    »Ja«, antwortete Anne-Marie für uns alle. Sie fasste nach meiner Hand und drückte sie.
    Eine Woche später flogen wir zurück nach Chicago. Vor lauter Aufregung, wieder nach Hause zu kommen, ließ ich Harriet , mein Notizbuch und Piggy im Taxi liegen. Meine Eltern versuchten, den Taxifahrer ausfindig zu machen, aber vergebens. Wochenlang konnte ich nicht richtig schlafen. Weinend und zitternd schreckte ich aus Albträumen hoch, die ich schon im Aufwachen wieder vergessen hatte. Meine Mutter kaufte mir ein neues Exemplar von Harriet, Spionage aller Art , und eine Bekannte nähte ein neues Kuschelschwein. Ich besorgte mir ein frisches Notizbuch und beschrieb alles noch einmal: Harriet, Carol und meine Großmutter, meine Verwandten in Polen und den Schrecken von Checkpoint Charlie. Ich verfasste auch ein Gedicht über Anne-Marie und ihre Hand, die sie mir auf der unebenen Matratze meiner Tante und dann auf dem Rücksitz unseres Wagens bei der Rückkehr in den Westen gereicht hatte. Das Schreibheft besitze ich leider nicht mehr, aber meine neue Harriet -Ausgabe habe ich noch, genau wie das Kuschelschwein. Dem Trost des Schweins entwuchs ich irgendwann – dem Trost des Buches nie.
    Und jetzt brauchte ich wieder Trost. Ich brauchte Hoffnung. Die Hoffnung, dass sich das Schicksal wieder wenden würde, nachdem es sich von der schlimmsten Seite gezeigt hatte. Als Kinder hatten wir drei so lange in einer heilen Welt gelebt. Doch dann wurde alles anders. Meine Schwester, die mir die Hand gereicht hatte, war tot. Das Leben hatte seine ganze Ungerechtigkeit über mir ausgeschüttet, willkürlich zugeschlagen, jede Sicherheit herzlos vernichtet.
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