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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel
Autoren: Nina Sankovitch
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ich zu dem Restaurant, in dem wir am Vorabend nicht erschienen waren. Ich kam verschwitzt und staubig dort an und erklärte der Oberkellnerin, dass wir den vereinbarten Termin schlichtweg verschlafen hatten. Sie war groß, eine klassische Schönheit, und lachte, als sie meine Entschuldigung hörte.
    »Die Geschichte gefällt mir«, sagte sie, als sie uns mit einem Sternchen für zwanzig Uhr an diesem Abend eintrug.
    Beim Abendessen erhob ich mein Glas italienischen Weißwein, den mir unser zuvorkommender Kellner gerade eingeschenkt hatte, und sah Jack in die Augen. Ich hatte seine volle Aufmerksamkeit.
    »Auf mein Lesejahr«, verkündete ich.
    »Du willst es wirklich machen?«, fragte er.
    Ich nickte.
    »Ein Buch pro Tag? Wie wär’s mit einem Buch pro Woche?«, fragte er.
    Nein, es musste ein Buch am Tag sein. Ich musste mich hinsetzen, zur Ruhe kommen und lesen. Ich hatte die letzten drei Jahre damit verbracht, wie eine Wahnsinnige herumzurennen, mein Leben und das meiner ganzen Familie mit Aktivitäten und Plänen zu füllen, ich war in Bewegung, ständig in Bewegung. Doch soviel ich auch in unser Leben hineinzwängte, sosehr ich mich abhetzte, der Trauer und dem Schmerz entkam ich nicht.
    Schluss mit der Rennerei. Ich musste aufhören, mich ständig um alles und jedes zu kümmern. Ich musste anfangen zu lesen.
    »Gut, dann also auf dein Lesejahr«, antwortete Jack und stieß mit mir an. »Möge es all das für dich sein, was du dir wünschst, und noch viel mehr.«

1
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Gerade aus dem Wissen heraus, dass er tot ist, will er seinen Sohn beschützen. Solange ich lebe, denkt er, möchte ich der Wissende sein. Welche Willensanstrengung es auch immer erfordern mag, das denkende Lebewesen, das durch die Luft stürzt, möchte ich sein!
J.M. COETZEE , Der Meister von Petersburg
      Meine Schwester starb, als sie sechsundvierzig Jahre alt war. In den wenigen Monaten von der Diagnose bis zu ihrem Tod war ich ständig zwischen unserem Haus in Connecticut und dem Krankenhaus in New York unterwegs. Meistens fuhr ich mit dem Zug in die Stadt. Während der Fahrt konnte ich lesen. Ich las aus denselben Gründen wie immer: weil es mir Spaß machte und weil es mich ablenkte. Doch jetzt las ich auch, um zu vergessen, um eine halbe Stunde lang nicht daran zu denken, was mit meiner Schwester geschah. Sie hatte Gallengangkrebs. Die Krankheit schritt schnell und unaufhaltsam voran und brachte Schmerzen, Hilflosigkeit und Angst mit sich.
    Im Zug hatte ich immer ein oder zwei Bücher für Anne-Marie dabei. Anfangs, als ich von ihrer Krebserkrankung erfuhr, hatte ich wie eine Wahnsinnige im Internet recherchiert, um alles darüber herauszufinden – jeder, der mit der Diagnose Krebs überfallen wird, tut das –, und hatte unter anderem gelesen, lustige Bücher könnten beim Kampf gegen die Krankheit helfen. Auch Schmöker, mit denen man aus der Realität fliehen konnte, würden dazu beitragen, die bösen Zellen abzuwehren, aber von schwierigem Lesestoff wurde abgeraten. Also brachte ich Anne-Marie Bücher von Woody Allen und Steve Martin und jede Menge Krimis mit. In Krimis geht es um Tod, und an den Tod wollte keiner von uns denken, aber Anne-Marie hatte sich immer am liebsten bei einem Kriminalroman entspannt. Als Kunsthistorikerin verbrachte sie ihre Tage mit wissenschaftlichen Texten und der Untersuchung von Plänen, Fotos und Details von Bauwerken. Krimis waren ihr Bonbon, ihr Gin Tonic, ihr Schaumbad. Am liebsten las sie Krimis mit vielen Details, dichter Atmosphäre und düsteren Motiven. Ausgeschlossen, dass ich ihr so etwas jetzt vorenthalten würde.
    Mitte April kaufte ich ihr einen Krimi, den ich selbst noch nicht kannte. Die Bücher von Carl Hiaasen sind leicht pervers und herrlich verrückt, und Letztes Vermächtnis würde bestimmt gut gegen Schmerzen und Angst wirken. Im Zug legte ich mein eigenes Buch zur Seite und schlug es auf. Es war sehr witzig und hatte jede Menge Atmosphäre – herrlich schräge Südfloridastimmung. Doch mir wurde schnell klar, dass das Buch uns zu direkt betraf. Jack Tagger, der Protagonist, ist überzeugt, dass er in seinem sechsundvierzigsten Lebensjahr sterben wird. Meine Schwester musste bis zum siebenundvierzigsten Geburtstag durchhalten – sie musste einfach –, daran durfte keinerlei Zweifel aufkommen. Ich überflog das Buch und gab es Anne-Marie nie zum Lesen.
    Angenommen, ich hätte gewusst, dass meine Schwester ihren siebenundvierzigsten Geburtstag
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