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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel
Autoren: Nina Sankovitch
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Tage zuvor hatte ich vor Michael geweint und ihm erklärt, Martin habe Glück, weil er noch zu klein sei, um zu verstehen, dass Anne-Marie bald sterben würde. Aber Michael sagte: »Nein, Mommy, das ist kein Glück. Er hat kein Glück, weil er Anne-Marie nie so gut kennen wird, wie wir sie kennen.« Michael konnte sich gut an die Nächte, die er bei ihr verbracht hatte, an die Scrabble-Abende und stundenlangen Lego-Spiele mit ihr erinnern. Anne-Marie spielte immer das böse Lego-Männchen, das alles kaputtmachen wollte, was die guten gerade aufgebaut hatten. Das böse Lego-Männchen wurde am Ende immer besiegt.
    Ich ging in einen Laden, um einen Gürtel für meine rutschende Hose zu kaufen. Ich wollte etwas richtig Grelles. Das war mein Part, solange Anne-Marie im Krankenhaus war: Ich musste ihre Aufmerksamkeit erregen, sie zum Lachen bringen oder ihr eine ihrer sarkastischen Bemerkungen entlocken. Als Beweis, dass sie noch da war. Ich erzählte ihr witzige und unglaubliche Geschichten von den Kindern. Ich trug neue Kleidungsstücke in skurrilen Kombinationen, jeden Tag verrückter als am Vortag. Anne-Marie schmunzelte und lachte, wenn sie mich sah. Eine Minute lang vergaß sie, dass sie starb. Ich wollte alles tun, um ihr diese Minute zu schenken.
    Also suchte ich einen geradezu unglaublich hässlichen rosa-weiß-neonorange gestreiften Gürtel für meine alte Jeans aus, übergab Martin meiner Mutter und fuhr mit dem Aufzug in den siebten Stock.
    Es war ein wunderbarer Besuch. Anne-Marie war gut drauf und sofort ganz da, als ich ins Zimmer kam. Sie bedachte meinen Gürtel mit einer wohl verdienten gehässigen Bemerkung. Sie beugte sich vor und nahm das Buch entgegen, das ich ihr mitgebracht hatte, Tricks , ein Kurzgeschichtenband von Alice Munro. Sie zog eine Lesebrille vom Kopf und las einen Abschnitt auf der Seite, die sie zufällig aufgeschlagen hatte. Später las ich die Erzählungen auch, die Zeile stach mir in die Augen: »Sie hofft, wie Menschen gegen besseres Wissen hoffen, auf unverdiente Segnungen, spontane Heilungen, solche Sachen.« Wir alle hofften auf »solche Sachen«. Anne-Marie hatte nicht mehr genug Zeit, all die Bücher zu lesen, die ich ihr mitbrachte. Sie las eine Seite von Munro, klappte das Buch zu und legte es auf den Stapel zu den anderen.
    Ich kämmte ihr die Haare aus dem Gesicht: Sie sah so hübsch aus. Unsere Eltern hatten uns Kinder nie miteinander verglichen. Für sie waren wir alle klug und schön. Aber wir wussten, wie es wirklich war: Anne-Marie war die Schöne, Natasha die Brave und ich das lustige Pummelchen.
    Drei Töchter, grundverschieden, aber alle liebten wir Bücher. Schon unsere ersten, tapsigen Schritte führten uns zum Bücherregal. Als ich gerade einmal drei Jahre alt war, gingen wir Schwestern schon allein zum Buchmobil, das nur wenige Ecken von unserem Haus entfernt anhielt. In Fahrenheit 451 beschreibt Ray Bradbury, dass »Bücher nach Muskatnuss oder nach sonstwelchen fremdländischen Gewürzen riechen«. Auch für mich haben Bücher einen würzigen Geruch, aber es ist ein heimisches Gewürz, mir wohlvertraut. Es ist der Geruch des Buchmobils – eine Mischung aus staubigen Buchseiten und menschlicher Wärme. Wir drängelten uns vor den Büchern und suchten uns aus den unteren Regalen selbst das aus, was wir wollten; die höher gelegenen Borde waren den Erwachsenen vorbehalten. In der Mitte des Bücherbusses standen die Neuerscheinungen, an der Seite gab es einen Schlitz für die Buchrückgabe. Unsere Eltern erwarteten, dass wir selbst den Überblick darüber behielten, wann wir die ausgeliehenen Bücher zurückbringen mussten. Anne-Marie und ich überzogen meistens, Natasha nie.
    Auf dem Fensterbrett von Anne-Maries Krankenzimmer stapelten sich die Bücher: alles Geschenke von Verwandten und Freunden. Ich lieh mir immer so viele aus, wie ich selbst mitbrachte. Anne-Marie hatte mir gerade erst von Deborah Crombie und deren Detektiven Duncan Kincaid und Gemma James vorgeschwärmt. Sie las die Krimiserie schon zum zweiten Mal, für mich war sie Neuland, das ich begeistert erkundete. Ich war gerade mitten im Roman Alles wird gut . Der Titel klang vielversprechend, und als ich das Buch auf Anne-Maries Fensterbrett hatte liegen sehen, fragte ich, ob ich es mir ausleihen dürfe. Sie war einverstanden, sagte aber, sie wolle das Buch zurückhaben. Wir hatten alle noch Pläne für später.
    Mein Vater und Marvin, Anne-Maries Mann, waren an diesem Morgen ebenfalls da. Marvin
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