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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel
Autoren: Nina Sankovitch
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verbrachte jede Nacht bei Anne-Marie im Zimmer und war ständig übermüdet. Es war nicht einfach, neben einer Frau im Krankenbett zu schlafen, die an alle möglichen Schläuche angeschlossen war. Ich versuchte, ihn und meinen Vater zum Lachen zu bringen. Es war wichtig, dass ich den Clown spielte. Solange wir lachten, vergaßen wir, dass wir mit einer Frau zusammen waren, der nur noch wenig Hoffnung blieb. Das Vergessen schenkte uns den Optimismus, noch Pläne zu schmieden. Anne-Marie aß ihren Wackelpudding, und wir alle stellten uns vor, dass sie schon am nächsten Tag feste Nahrung zu sich nehmen würde. Wir sprachen davon, raus nach Bellport zu fahren, zu ihrem Ferienhaus am Meer, sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen würde. Ich wollte sie für eine neue Krimiserie von M. C. Beaton begeistern, die ich gerade entdeckt hatte – mit dem trägen, aber ungemein sympathischen Polizisten Hamish Macbeth aus den schottischen Highlands in der Hauptrolle. Beim nächsten Besuch würde ich ein paar Bücher aus der Reihe mitbringen, bot ich an. Anne-Marie wirkte skeptisch – ihr war London lieber als das ländliche Schottland –, aber ich versicherte ihr, dass Beatons exzentrische Figuren das ländliche Ambiente mehr als wettmachten. Wieder lachten wir.
    Wenn Anne-Marie müde wurde, fielen ihr die Augen halb zu, und sie hörte mitten im Satz auf zu sprechen. Das war für mich das Zeichen zum Aufbruch, damit sie sich mit ihren Büchern und der Zeitung ausruhen konnte. Ich gab ihr einen Kuss, sagte ihr, dass ich sie lieb hatte und sie morgen wiedersehen würde. »Erzähl mir noch mal das mit Martins neuen Schuhen«, sagte sie und sah mich einen Moment lang wach aus großen Augen an. Ich erzählte ihr von den neuen Schuhen meines Dreijährigen: rosarote Merrells. Er liebte Rosa. Sie nickte.
    »Bis morgen«, sagte sie.
    Eine Stunde später war meine Schwester tot. Sie hatte meiner Mutter mit den Worten: »Hier, lies das mal. Das ist interessant« einen zusammengefalteten Teil der New York Times hingehalten und dann versucht aufzustehen. Blut quoll ihr aus dem Mund, und sie fiel nach hinten. Die Krankenschwester drängte sich an meiner Mutter vorbei und sagte, sie solle Marvin schnell holen gehen, der auf den Flur gegangen war. Aber es war zu spät. Anne-Marie war schon tot.
    Ich fuhr gerade über die Henry Hudson Bridge, Martin saß hinten in seinem Kindersitz, als mein Handy klingelte. Ich hatte es immer griffbereit zwischen den Beinen liegen. Jack unterbrach mich, als ich ihm erzählen wollte, wie gut der Besuch gelaufen war.
    »Nina, du musst umdrehen.«
    »Warum? Warum soll ich umdrehen?« Mir wurde schrecklich übel. Jack gab mir keine Antwort.
    »Jetzt sag schon, warum ich zurückfahren soll? Was ist los?«
    »Anne-Marie ist tot.«
    Ich schrie. Und schrie wieder. Ich fuhr an den Straßenrand und hörte nicht auf zu schreien, bis meine Kehle rau und wund war. Hinter mir saß stumm der kleine Martin. Er muss bis ins Mark erschrocken sein. Ich hörte auf zu schreien und fing an zu weinen. Ich wendete das Auto und fuhr zurück nach New York, zurück zum Krankenhaus.
    Anne-Marie lag ausgestreckt auf dem Bett, die Arme über dem Körper gefaltet. Man hatte ihr ein Tuch um den Kopf gebunden, damit ihr Mund zublieb. Meine Mutter stand leise weinend neben ihr und hielt sich an dem Laken fest, das ihren Körper bedeckte. Marvin lief im Zimmer auf und ab. Jack sprach mit der Krankenschwester, die uns aus dem Zimmer haben wollte, damit die Leiche in die Leichenhalle geschafft werden konnte. Ich hatte Martin mit Malsachen bei einer anderen Krankenschwester im Wartezimmer zurückgelassen. Natasha saß neben meinem Vater auf dem Sofa und weinte. Sie hielt seinen Arm, während die Tränen ihm zitternd die Wangen hinunterliefen, weil er sich so heftig vor und zurück wiegte. »Drei in einer Nacht«, murmelte er vor sich hin, immer und immer wieder, »drei in einer Nacht.«
    Ich versuchte, meine Mutter vom Bett fortzuziehen. »Komm, lass uns gehen, Mommy. Das ist nicht mehr Anne-Marie.«
    »Doch«, widersprach meine Mutter mir, »natürlich ist das Anne-Marie.« Sie wandte sich wieder meiner Schwester zu, streichelte ihr die Wange und hielt ihre Hand auf dem Laken fest.
    Doch dieser Körper war nicht mehr meine Schwester. Anne-Marie war fort. In Worten, in Erinnerungen und auf Fotos würden wir sie noch bei uns haben. Wir konnten an sie denken und über sie reden und von ihr träumen. Aber sich selbst hatte sie verloren, nie wieder
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