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Das Hohe Haus

Das Hohe Haus

Titel: Das Hohe Haus
Autoren: Roger Willemsen
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Montag, 31 . Dezember, Neujahrsansprache
    Da sitzen wir, einander gegenüber, nur wir beide, sie und ich, getrennt durch eine Glasscheibe. Wir sind so selten auf diese Weise für uns, unsere Blicke treffen sich nie, und manchmal, wenn ich sie irgendwo sehe, frage ich mich, ob sie von den Meinen weiß, ob wir eine Rolle spielen in ihren Überlegungen, wenn sie »Sorge« sagt oder »Verantwortung«.
    Ich suche in ihrem Gesicht, in ihren Gesten, die sie so gern im Scharnier der Raute einrasten lässt. Wer wollte sie sein, als sie sich zum heutigen Anlass für diese futuristische Silberweste entschied? Steif und fern, wie sie da sitzt, wirkt sie nicht, als müsse sie mir dringend etwas sagen. Eine Mediengesellschaft sollen wir sein, wählen Menschen mit dem Privileg, zum Volk zu reden – und dann reden sie so? Vielleicht ist es umgekehrt: Wer an der Macht nicht auffällt und sich mit dem Volk auf Gemeinplätzen verabredet, kann immer weiter herrschen.
    Herrschen? Sie spricht. Was für ein Redetyp ist dies? Eine Ansprache? Eine Gardinenpredigt? Ein Märchen? Warum nicht? In früheren Jahrhunderten hat man gepredigt: »Mensch, werde wesentlich.« Der Kanzlerin sagte man: »Wesen, werde menschlich«, und so darf sie mir heute persönlich kommen, matriarchalisch, die gute Hirtin, Trümmerfrau, Mutter, Lehrerin, Oberärztin, Hüterin des Schutzmantels.
    Sie sitzt neben einem Gebinde, das an Begräbnisse erinnert, vor einem Tannenbaum, flankiert von einem Flaggen-Ensemble für Deutschland und Europa, also zwischen Emblemen und Mythen. Jetzt erzählt sie die Geschichte vom verhinderten Schulabbrecher, vom Zusammenhalt, von »Freunden und Nachbarn«, von »Familien, die sich Tag für Tag um ihre Kinder und Angehörigen kümmern«. Doch dies sind sämtlich Dinge, die sie aus freien Stücken tun, und nicht, weil die Regierung ihnen diese Freiheit schenkte. Sie erzählt von »Gewerkschaftern und Unternehmern, die gemeinsam für die Sicherheit der Arbeitsplätze arbeiten«, aber nicht dafür arbeiten sie, sondern für Geld, sie lobt, wie wir alle beitragen, »unsere Gesellschaft menschlich und erfolgreich« zu machen, aber das tun wir nicht, denn das »Erfolgreiche« und das »Menschliche« sind nur in Sonntagsreden und Neujahrsansprachen versöhnt.
    Sie weiß, was wir hören wollen, spricht deshalb von der »sicheren Zukunft«, an die ich nicht glauben kann, von dem »kleinen medizinischen Wunder« der mitwachsenden Herzklappenprothese bei einer jungen Frau, woran ich durchaus glauben kann. Doch ist dies ein Beispiel mit Kalkül, und dies schmeckt vor. Zur Kultur außerhalb der Wissenschaft kein Wort, an ihrer Stelle prunkt »die Bereitschaft zur Leistung und soziale Sicherheit für alle«, und weil es der Bogen der Rede so verlangt, müssen schließlich die Begriffe »menschlich und erfolgreich« noch einmal zusammentreten, ehe mir die Kanzlerin »Gottes Segen« wünscht. Dann geht sie wieder ihren Geschäften nach, und ich bleibe zurück.
    Was war das? Warum war das? Die Neujahrsansprache hat keine Funktion. Die Ausstellung der Funktionslosigkeit ist ihre Funktion. Also ist sie eine Manifestation ritueller Zwecklosigkeit im interesselosen Raum. Es wird zwar gesprochen, doch man kann nicht widersprechen, nicht eingreifen. Die Verwaltung des Landes hat die Lippen bewegt, und sie war nicht nur menschlich, sie hat auch alles Menschliche vereinnahmt als etwas, das mir die Regierung schenkt. Zugleich hat sie mehr Krise angekündigt, jetzt aber sicher. Denn nach neun Monaten einer Krise, die immer bloß von der Akropolis herunterdrohte, mussten neue Leidenshorizonte aufgerissen werden, weil die alten verblassten. In dieser Krise war nämlich das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands um drei Prozent gestiegen, das Staatsdefizit gesunken.
    Die Krise aber festigt die Anhänglichkeit der Regierten an die Regierenden. Immer wieder habe ich sagen hören, »gemeinsam« könnten wir »es« schaffen. Aber was ist dieses »es«, wo ist der Schauplatz für dieses »gemeinsam«, und wie belastbar ist diese Rhetorik? Als im afghanischen Kundus nach einer von Deutschen verantworteten Bombardierung 142  Menschen, darunter viele Kinder, starben, die weitaus größte Opferzahl in der Geschichte der Bundeswehr, hatte die Kanzlerin gesagt: »Wenn es zivile Opfer gegeben haben sollte, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern.« Das konjunktivische Mitleid: Wenn tot, dann traurig, wenn traurig, dann »zutiefst«, und wenn »zutiefst«, dann
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