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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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sagen: Es gibt keinen Film.«
    Wenn man es sich zur Aufgabe gemacht hat zu beweisen,
    dass man nicht verrückt ist, sind Leute wie Shi Chongming wirklich keine Hilfe. Etwas zu lesen, es mit eigenen Augen schwarz auf weiß zu sehen, nur um dann in der nächsten Minute gesagt zu bekommen, dass man es sich eingebildet hätte - nun, das kann einen wirklich so wahnsinnig machen, wie man es nach Ansicht aller bereits ist. Es war immer wieder dieselbe Geschichte, genau dasselbe wie mit meinen Eltern und der Klinik, als ich dreizehn war. Alle dort behaupteten, die Folter wäre meine pure Einbildung, alles Teil meiner Wahnvorstellungen - dass es niemals solch schreckliche Grausamkeiten gegeben haben könnte. Dass die japanischen Soldaten brutal und skrupellos gewesen wären, aber selbst sie niemals so etwas getan hätten, etwas so Unaussprechliches, dass selbst die Ärzte und Krankenschwestern, die normalerweise nichts mehr schockierte, ihre Stimmen senkten, wenn sie darüber sprachen. »Ich bin sicher, dass du glaubst, du hättest es gelesen. Ich bin sicher, dass es für dich real ist.«
    »Es ist real«, hatte ich gesagt und auf den Boden gestarrt, während mir die Schamesröte in die Wangen schoss. »Ich habe es gelesen. In einem Buch.« Es war ein Buch mit einem orangefarbenen Einband gewesen und mit einem Foto von Leichenbergen im Hafen von Meitan. Es war voller Geschichten davon, was in Nanking geschehen ist. Bevor ich das Buch in die Hände bekam, hatte ich noch nie von Nanking gehört.
    »Ich habe es in meinem Elternhaus gefunden.«
    Eine der Schwestern, die mich überhaupt nicht mochte, kam immer an mein Bett, wenn das Licht ausgeschaltet wurde. Sie dachte, niemand würde uns belauschen. Ich lag dann stocksteif da und tat so, als schliefe ich, doch sie beugte sich trotzdem über mich und flüsterte mir ins Ohr, so dass ich ihren heißen, säuerlichen Atem riechen konnte. »Ich will dir mal eins sagen«, murmelte sie Nacht für Nacht, wenn die Blumenschatten der Gardinen reglos an der Stationsdecke hingen. »Du hast die perverseste Phantasie, die mir in meinen zehn Jahren in diesem beschissenen Job je untergekommen ist. Du bist wirklich verrückt. Nicht nur verrückt, sondern verdorben.«
    Aber ich habe es mir nicht ausgedacht...
    Ich hatte Angst vor meinen Eltern, besonders vor meiner Mutter. Aber als mir niemand in der Klinik glaubte, dass das Buch existierte, als ich zu befürchten begann, dass sie Recht haben könnten, dass ich es mir tatsächlich eingebildet hatte, dass ich tatsächlich verrückt war, nahm ich allen Mut zusammen und schrieb einen Brief nach Hause, in dem ich sie bat, unter den Unmengen von Taschenbüchern nach einem Buch mit einem orangefarbenen Einband und dem Titel DAS
    Massaker von Nanking oder so ähnlich zu suchen. Fast umgehend kam ein Antwortbrief: »Ich bin sicher, dass es dieses Buch gibt, aber ich schwöre dir, ich habe in meinem Haus niemals solchen Schund gelesen.«
    Meine Mutter war immer so überzeugt davon gewesen, dass
    sie völlige Kontrolle darüber besaß, was ich wusste und dachte. Sie wollte nicht, dass die Schule mir den Kopf mit falschen Dingen füllte, weshalb ich jahrelang zu Hause unterrichtet wurde. Aber wenn man eine solche Verantwortung übernimmt, wenn man solche Angst hat (aus welchem tief verborgenen, schmerzlichen Grund auch immer), seine Kinder könnten etwas über die Welt erfahren, dass man jedes Buch, das den Weg ins Haus findet, genauestens überprüft, manchmal sogar anstößige Seiten aus Romanen reißt - nun, dann ist eins sicher: Man muss gründlich sein. Zumindest etwas gründlicher, als meine Mutter es war. Sie bemerkte nicht die Laxheit, die sich in ihr Heim einschlich, die sich durch die efeuüberwucherten Fenster hereinstahl, zwischen den modrigen Taschenbuchstapeln entlangkroch. Irgendwie hatte sie das Buch über Nanking übersehen.
    »Wir haben alles abgesucht, in der besten Absicht, dir, unserem einzigen Kind, zu helfen, aber ich muss dir leider mitteilen, dass du dich in diesem Fall geirrt hast. Wir haben deinem zuständigen Arzt geschrieben, um ihn davon in Kenntnis zu setzen.«
    Ich erinnere mich daran, wie ich den Brief auf den Boden der Station fallen ließ, während mir ein schrecklicher Gedanke kam. Was ist, wenn sie Recht haben? Was, wenn dieses Buch tatsächlich nicht existiert? Was, wenn ich mir das alles nur eingebildet habe? Das, dachte ich, während sich in meiner Magengrube ein dumpfer Schmerz regte, das wäre das Schlimmste, was je
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