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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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passieren könnte.
    Manchmal muss man einen weiten Weg zurücklegen, um Dinge zu beweisen, auch wenn sich am Ende herausstellt, dass man sie nur sich selbst bewiesen hat.
    Als ich schließlich aus der Klinik entlassen wurde, wusste ich genau, wie mein nächster Schritt aussehen würde. In der Klinik hatte ich all meine Prüfungen durch Fernunterricht abgelegt (in den meisten bekam ich eine Eins, und das überraschte alle - sie taten so, als ob sie dächten, Unwissenheit wäre gleichbedeutend mit Dummheit), und draußen in der wirklichen Welt gab es wohltätige Organisationen für Leute wie mich, die uns halfen, uns für die Uni zu bewerben. Sie standen mir bei all den Dingen bei, die mir schwer fielen - Telefonanrufe und Busfahrten. Ich hatte mir selbst mit Hilfe von Bibliotheksbüchern Chinesisch und Japanisch beigebracht, und es dauerte nicht lange, bis ich einen Studienplatz am Institut für Asienkunde der London University erhielt. Nach so langer Zeit plötzlich in die Außenwelt entlassen, wirkte ich fast normal: Ich hatte eine gemietete Studentenbude, einen Teilzeitjob als Handzettelverteiler, einen Studenten-Bahnpass und einen Tutor, der Yoruba-Skulpturen und Postkarten mit Bildern der Präraffaeliten sammelte. (»Ich habe ein Faible für bleiche Frauen«, gestand er einmal und musterte mich dabei eingehend. Dann hatte er ganz leise hinzugefügt: »Solange sie nicht verrückt sind, versteht sich.«) Doch während die anderen Studenten von ihrem Abschluss, vielleicht sogar von einem Doktorandenstipendium träumten, drehten sich all meine Gedanken um Nanking. Wenn je Frieden in mein Leben einkehren sollte, dann musste ich herausfinden, ob ich die Einzelheiten in dem orangefarbenen Buch richtig erinnert hatte. Ich verbrachte Stunden in der Bibliothek und durchforstete Bücher und wissenschaftliche Zeitschriften, in der Hoffnung, eine Ausgabe des Buchs oder, wenn das fehlschlagen sollte, eine andere Publikation mit demselben Augenzeugenbericht zu finden. Es hatte ein Buch mit dem Titel Das Grauen von Nanking, veröffentlicht 1980, gegeben, doch es war vergriffen. Keine Bibliothek, nicht einmal die Library of Congress besaß
    eine Ausgabe, und außerdem war ich nicht sicher, ob es sich um dasselbe Buch handelte. Doch es spielte keine Rolle, denn ich fand etwas anderes. Zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass es Filmaufnahmen des Massakers gab.
    Insgesamt existierten zwei Filme. Der erste war Reverend Magees Film. Magee war in den Dreißigerjahren als Missionar in China tätig, und seinen Film hatte ein Kollege, der so entsetzt war von dem, was er gesehen hatte, dass er den Film für seine Reise nach Shanghai in das Futter seines Kamelhaarmantels einnähte, aus dem Land geschmuggelt. Anschließend lag der Film etliche Jahre vergessen in einem stickigen Keller in Südkalifornien, wo er langsam zerfiel, bis man ihn endlich wiederentdeckte und der Sammlung der Library of Congress stiftete. Ich hatte die Videokopie in der Bibliothek der London University gesehen, sie wieder und wieder angeschaut, jedes einzelne Bild studiert. Der Film zeigte die Schrecken von Nanking - Dinge, über die ich nicht nachdenken mag, nicht einmal am helllichten Tag doch er zeigte nicht die Folter, über die ich vor so vielen Jahren gelesen hatte.
    Der zweite Film oder, genauer gesagt, dessen Erwähnung,
    stammte von Shi Chongming. Als ich von ihm hörte, vergaß
    ich jeden anderen Gedanken.
    Es war mein zweites Jahr an der Uni. Eines schönen Morgens, als der Russell Square von Touristen und Narzissen überquoll, hockte ich in der Bibliothek an einem spärlich beleuchteten Tisch hinter den Regalen mit den Schriftenverzeichnissen über eine obskure akademische Zeitschrift gebeugt. Mein Herz hämmerte - endlich hatte ich einen Hinweis auf die Folter gefunden. Es war ein indirekter Hinweis, im Grunde sehr, sehr vage und ohne die entscheidende Einzelheit, doch ein Satz ließ mich von meinem Stuhl hochfahren: »Ende der Fünfzigerjahre gingen in Jiangsu Gerüchte über die Existenz eines 16-mm-Films von dieser Folter um. Im Gegensatz zu Magees Film ist dieser bis dato jedoch noch nicht außerhalb Chinas aufgetaucht.«
    Ich zog die Leselampe näher heran, konnte einfach nicht fassen, was ich da las. Es war unglaublich, sich vorzustellen, dass es ein visuelles Dokument darüber gab. Sie konnten mich verrückt nennen, mich als unwissend beschimpfen, aber niemand konnte sagen, dass ich mir das alles nur ausgedacht hätte - nicht, wenn es da
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