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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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die anderen Kunden (aten. Außer einem Schurwollrock, zwei Blusen, zwei Strumpfhosen, einem Paar lederner Schnürschuhe, drei japanischen Sprachführern, sieben Fachbüchern über den Krieg i in Pazifik und einem Wörterbuch und drei Pinseln befanden sich auch noch acht Packungen Butterkekse in meiner
    Umhängetasche. Vielleicht würde es niemand bemerken, wenn ich jetzt ein paar davon herausholte. Ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie es weitergehen würde, wenn ich Shi Chongmings Film in Händen hielt. Da hätten wir's mal wieder, Grey, dachte ich. Was haben dir die Ärzte immer gesagt? Du musst Wege finden vorauszudenken - es gibt Regeln in der Gesellschaft, die zu beachten sind.
    Grey.
    Das ist selbstverständlich nicht mein richtiger Name. Selbst meine Eltern, von der Welt abgeschieden in ihrem verfallenden Cottage, zu dem keine Straßen führten und an dem keine Autos vorbeikamen, selbst sie waren nicht so verschroben. Nein. Dieser Name wurde mir in der Klinik verpasst.
    Ich habe ihn von dem Mädchen im Nachbarbett erhalten,
    einem blassen Wesen mit einem Ring im Nasenflügel und verfilztem Haar, das sie den ganzen Tag lang kratzte: »Soll'n Dreadlocks werden, wenn's fertig ist, ich steh nämlich total auf Dreadlocks.« Sie hatte Krätze um den Mund, vom Klebstoffschnüffeln, und einmal bog sie einen Drahtbügel auseinander, schloss sich in der Toilette ein und schob das spitze Ende unter ihrer Haut vom Handgelenk bis ganz hinauf zur Achselhöhle. (Die Klinik brachte Leute wie uns gern zusammen unter, was ich nie verstehen werde. Wir waren die
    »Selbstverletzungsstation«.) Das Mädchen mit den Dreadlocks trug immer ein selbstsicheres Grinsen zur Schau, und ich hätte nie im Leben gedacht, dass sie ausgerechnet mit mir reden würde. Dann standen wir eines schönen Tages fürs Frühstück an, und sie bemerkte, dass ich hinter ihr in der Schlange wartete. Sie drehte sich um, sah mich an und stieß ein kurzes Lachen aus, als sie mich erkannte. »Oh, ich hab's. Jetzt hab ich endlich geschnallt, wie du aussiehst.«
    Ich blinzelte verwirrt. »Was?«
    »Wie ein Grey. Du erinnerst mich an einen Grey.«
    »Einen was?«
    »Ja. Als du hier eingewiesen worden bist, da warst du noch lebendig. Aber«, sie grinste und deutete mit dem Finger auf mein Gesicht, »jetzt bist du es nicht mehr, stimmt's? Du bist ein Geist, Grey, wie wir alle.«
    Ein »Grey«. Am Ende musste sie eine Zeichnung von einem
    »Grey« heraussuchen, um zu erklären, was sie meinte: Es war ein außerirdisches Ding mit einem großen Kopf, ausdruckslosen, insektengleichen Augen hoch auf der Stirn und seltsam ausgeblichener Haut. Ich erinnere mich daran, wie ich auf meinem Bett saß, auf die Zeitschrift starrte, während meine Hände immer kälter wurden und mein Blut im Kriechtempo
    durch meine Adern floss. Ich war ein »Grey«. Dürr und weiß
    und ein bisschen durchscheinend. Es war nichts Lebendiges in mir übrig. Ich war ein Geist.
    Ich wusste, warum. Es lag daran, dass ich keine Ahnung hatte, was ich glauben sollte. Meine Eltern weigerten sich, mich zu unterstützen, und da waren die anderen Dinge, die die Ärzte zu der Überzeugung brachten, dass ich verrückt sei - die ganze Sache mit dem Sex, nur so zum Beispiel. Und dann gab es meine seltsame Unwissenheit, was die Welt anging.
    Die meisten vom Klinikpersonal hielten meine Geschichte
    insgeheim für haarsträubend: aufgewachsen mit Büchern, aber ohne Radio oder Fernsehen. Sie lachten, wenn ich erschreckt zusammenfuhr, sobald ein Staubsauger eingeschaltet wurde oder auf der Straße ein Bus vorbeirumpelte. Ich wusste nicht, wie man einen Walkman oder eine Fernbedienung benutzte, und manchmal ertappten sie mich gestrandet an den merkwürdigsten Orten, wo ich verwirrt blinzelnd herumstand und mich nicht erinnern konnte, wie ich dorthin gelangt war. Sie glaubten mir nicht, dass es daran lag, dass ich in völliger Isolation aufgewachsen war, abgeschnitten von der realen Welt. Stattdessen entschieden sie, dass dies alles Teil meines Wahnsinns wäre.
    »Ich vermute, du denkst, Unwissenheit wäre eine Entschuldigung für alles.« Für die Schwester, die mitten in der Nacht kam und mir ihre Ansichten ins Ohr zischte, war meine Unwissenheit die größte aller meiner Sünden. »Aber es ist keine Entschuldigung, verstehst du, es entschuldigt gar nichts. Nein. Für mich ist Unwissenheit dasselbe wie pure Verderbtheit. Und was du getan hast, war genau das -durch und durch verderbt und schlecht.«
    Als
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