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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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schwarz auf weiß zu lesen war.
    »Der Film soll angeblich einem gewissen Shi Chongming
    gehört haben, einem jungen Forschungsassistenten der Jiangsu-Universität, der sich zur Zeit des großen Massakers von 1937 in Nanking aufgehalten hatte ...«
    Ich las den Absatz wieder und wieder. Mich überkam ein
    Gefühl, das ich nie zuvor empfunden hatte, ein Gefühl, das durch die jahrelange Ungläubigkeit des Klinikpersonals verkümmert war. Erst als der Student am Nachbarpult ungehalten seufzte, bemerkte ich, dass ich mit geballten Fäusten aufgesprungen war und vor mich hin murmelte. Die Haare an meinen Armen hatten sich aufgerichtet. Der Film ist bis dato noch nicht außerhalb Chinas aufgetaucht...
    Warum habe ich jene Zeitschrift nicht gestohlen? Wenn ich meine Lektion aus der Klinik wirklich gelernt hätte, hätte ich die Zeitschrift unter meiner Strickjacke verschwinden lassen und wäre damit aus der Bibliothek spaziert. Dann hätte ich etwas in der Hand gehabt, um es Shi Chongming zu zeigen, einen Beweis, dass diese Dinge nicht meiner krankhaften Phantasie entsprungen waren. Dann hätte er es nicht abstreiten und mich von neuem in Zweifel hinsichtlich meiner geistigen Gesundheit stürzen können.
    2
    Gegenüber dem riesigen rot lackierten Akamon-Toi am Eingang der Todai-Universität gab es ein kleines Restaurant namens Bambi-Cafe. Als Shi Chongming mich aufforderte, sein Büro zu verlassen, sammelte ich gehorsam all meine Notizen ein, stopfte sie wieder in die Umhängetasche und verließ den Raum. Doch ich hatte nicht aufgegeben. Noch nicht. Ich ging in das Cafe und suchte mir einen Platz am Fenster, so dass ich das Tor im Auge behalten und jeden kommen und gehen sehen konnte.
    Über mir ragten, so weit das Auge reichte, Tokios glitzernde Wolkenkratzer in den Himmel auf und reflektierten mit unzähligen Fenstern die Sonne. Ich saß zusammengekauert da und starrte zu diesem unglaublichen Panorama hinauf. Ich wusste eine Menge über diesen Phönix von einer Stadt, hatte darüber gelesen, wie Tokio aus der Asche des Krieges auferstanden war. Doch leibhaftig hier, erschien mir das alles unwirklich. Wo ist das Tokio aus der Kriegszeit?, fragte ich mich. Wo ist die Stadt, aus der jene Soldaten stammten? Ist das alles unter dem hier begraben? Es sah so ganz anders aus als die düsteren Bilder, die ich all die Jahre über im Kopf gehabt hatte, die Bilder von rußgeschwärzten Ruinen und zerbombten Straßen. Ich kam zu dem Schluss, dass ich den Stahl und Eisenbeton als eine Inkarnation Tokios betrachten würde, etwas, das die wirkliche Stadt, das wahre Herz Japans überlagerte.
    Die Serviererin starrte mich an. Ich griff nach der Speisekarte und tat mit hochrotem Gesicht so, als würde ich sie studieren. Ich besaß fast kein Geld, weil ich einfach nicht so weit gedacht hatte. Mein Flugticket hatte ich mir als Packerin mit wund gearbeiteten Fingern in einer Gefriergemüsefabrik verdient. Als ich der Universität mitteilte, dass ich nach Tokio reisen und Shi Chongming ausfindig machen wollte, erklärte man mir, dass dies der letzte Tropfen wäre, der das Fass zum Überlaufen brachte. Dass ich in London bleiben und die Seminare, bei denen ich durchgefallen war, wiederholen oder gleich ganz von der Uni abgehen könne. Anscheinend war ich
    »krankhaft besessen von gewissen Geschehnissen in Nanking«. Sie verwiesen auf die zu selten besuchten Vorlesungen, die Jura-Grundkurse, zu denen ich nicht einmal erschienen war, die vielen Gelegenheiten, bei denen ich im Hörsaal dabei ertappt worden war, wie ich Skizzen von Nanking statt solche über das wirtschaftliche Kräfteverhältnis in der Asien-Pazifik-Region machte. Es hatte keinen Sinn, sie um ein Forschungsstipendium für die Reise zu bitten, also verkaufte ich meine Habseligkeiten, einige CDs, einen Couchtisch und das alte schwarze Fahrrad, das mich jahrelang durch London getragen hatte. Nachdem das Flugticket gekauft war, blieb nicht mehr viel übrig - nur eine Hand voll Yen, die ich in eine der Seitentaschen meiner Umhängetasche stopfte. Ich schaute immer wieder verstohlen zu der Serviererin, während ich mich fragte, wie lange ich eine Bestellung wohl noch hinauszögern könnte. Sie blickte inzwischen etwas verärgert drein, also wählte ich das Billigste auf der Speisekarte - einen mit feuchten Zuckerkörnern bestreuten Melonen-Kopenhagener. Fünfhundert Yen. Als das Gebäck gebracht wurde, zählte ich das Geld sorgfältig ab und legte es auf die kleine Untertasse, so wie es
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