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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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Rollo herunter. Er lief ein wenig nach links gebeugt. Sein Haar war so licht, dass sein Hinterkopf beinahe kahl anmutete, und die Haut geriffelt, als ob da keine Schädeldecke wäre und man die Wölbungen
    und Windungen seines Gehirns sehen könnte. »Wissen Sie, wie heikel in diesem Land die bloße Erwähnung von Nanking ist?«
    Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und nahm mit arthritischer Bedächtigkeit dahinter Platz. Dann beugte er sich zu mir vor und sprach in einem leisen Flüsterton. »Wissen Sie, wie mächtig die Rechten in Japan sind? Wissen Sie, wie viele Menschen angegriffen wurden, weil sie darüber gesprochen haben? Die Amerikaner ...«, er deutete mit einem zittrigen Finger auf mich, als wäre ich ein Repräsentant Amerikas, »... die Amerikaner, MacArthur, haben sie in die Panikmacher verwandelt, die sie heute sind. Die Sache ist ganz einfach: Wir reden nicht darüber.«
    Ich senkte meine Stimme ebenfalls zu einem Flüstern. »Aber ich habe eine weite Reise unternommen, um mit Ihnen zu sprechen.«
    »Dann müssen Sie eben wieder zurückfahren«, antwortete er.
    »Sie reden hier von meiner Vergangenheit. Ich bin nicht hier, in Japan, um über die Fehler der Vergangenheit zu sprechen.«
    »Sie verstehen nicht. Sie müssen mir helfen.«
    »Ich muss?«
    »Es geht um eine spezielle Sache, die die Japaner getan haben. Ich weiß über die meisten der Gräueltaten Bescheid, über die TötungsWettbewerbe, die Vergewaltigungen. Aber ich rede hier von einer speziellen Sache, von etwas, dessen Zeuge Sie waren. Niemand glaubt, dass es tatsächlich passiert ist, alle denken, ich habe es mir ausgedacht.«
    Shi Chongming beugte sich vor und sah mir ins Gesicht. Meist bedenken mich die Leute, wenn ich ihnen sage, was ich herauszufinden suche, mit einem gequälten, mitleidigen Blick, einem Blick, der sagt: »Das musst du dir ausgedacht haben. Aber warum? Warum denkst du dir so etwas Abscheuliches
    aus?« Doch dieser Blick war anders. Dieser Blick war stählern und zornig. Als er schließlich sprach, hatte seine Stimme einen drohenden, grimmigen Ton angenommen: »Was haben Sie gesagt?«
    »Es gab einen Augenzeugenbericht darüber. Ich habe ihn vor Jahren gelesen, aber es ist mir nicht gelungen, das Buch wiederzufinden, und alle behaupten, dass ich mir das auch ausgedacht, dass es das Buch nie gegeben hätte. Aber das macht nichts, denn anscheinend existiert auch ein Film, aufgenommen 1937 in Nanking. Darauf bin ich vor sechs Monaten gestoßen. Und Sie wissen bestens über diesen Film Bescheid.«
    »Unsinn. Einen solchen Film gibt es nicht.«
    »Aber - aber Ihr Name hat in einer akademischen Zeitschrift gestanden. Ehrlich, ich hab es mit eigenen Augen gesehen. Dort stand, Sie wären in Nanking gewesen. Sie wären Zeuge des Massakers gewesen. Sie hätten diese Foltermethode mit angesehen. Dort stand, dass es 1957, als Sie an der JiangsuUniversität lehrten, Gerüchte gab, Sie würden einen Film darüber besitzen. Und deshalb bin ich hier. Ich muss mehr darüber erfahren ... ich muss mehr darüber erfahren, was die Soldaten getan haben. Nur ein Beispiel von diesen Gräueltaten, damit ich weiß, dass ich sie mir nicht eingebildet habe. Ich muss wissen, ob sie den Frauen, die sie verschleppten ...«
    »Genug!« Shi Chongming schlug mit den Händen auf den
    Schreibtisch und stand auf. »Kennen Sie denn kein Mitgefühl?
    Das hier ist kein Kaffeeklatsch!« Er nahm den Stock, der über der Rückenlehne seines Sessels baumelte, hinkte zur Tür, schloss sie auf und hängte sein Namensschild ab. »Sehen Sie das?«, sagte er und stieß die Tür mit dem Stock zu. »Professor der Soziologie. Soziologie. Mein Fachgebiet ist chinesische Heilkunde. Ich habe Nanking hinter mir gelassen. Es gibt keinen Film. Die Sache ist vorbei. Und nun, bitte, ich habe viel zu tun und ...«
    »Bitte.« Ich klammerte mich an die Schreibtischkante, mein Gesicht rotfleckig. »Bitte. Es gibt einen Film. Es gibt ihn. Es stand in der Zeitschrift, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Magees Film zeigt es nicht, aber Ihrer tut es. Es ist der einzige Film auf der ganzen Welt und ...«
    » Sssch«, sagte er und wedelte mit dem Stock in meine Richtung. »Es reicht.« Seine Zähne waren lang und gelb, wie alte Fossilien, die in der Wüste freigelegt worden waren - blank gelb geschliffen von Reishülsen und Ziegenfleisch. »Bitte, ich habe große Achtung vor Ihnen und Ihrer hervorragenden Lehranstalt. Sehr hervorragend. Aber lassen Sie es mich klipp und klar
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