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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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eine ausholende Bewegung mit den Händen, die die Bücher, die Farbdrucke mumifizierter Tiere und eine Wandkarte mit der Überschrift Entomologie von Hunan einschloss, »... wie , viel von dem hier mit Jian Zhen gekommen ist und wie viel 1945 von den Soldaten mit nach Japan zurückgebracht wurde. Ein Beispiel nur, lassen Sie mich sehen ...« Er strich mit seinen Händen über die vertrauten Texte, zog einen verstaubten Band heraus, legte ihn vor mich hin und schlug ihn auf einer Seite mit einem verwirrenden Diagramm eines Bären auf, aufgeschnitten, um seine in Pastellrosa und -mint kolorierten inneren Organe zu zeigen. »Hier haben wir ein Beispiel, den Kragenbär. War es nach dem Pazifikkrieg, dass sie anfingen, die Gallenblase ihres Karuizawa-Bären als Heilmittel gegen Magenbeschwerden zu benutzen?« Er legte die Hände auf den Tisch und sah mich an.
    »Ich vermute, das ist der Grund, weshalb Sie hier sind, stimmt's? Der Kragenbär ist eines meiner Fachgebiete. Er ist es, der die meisten Leute zu mir führt. Sind Sie eine Naturschützerin?«
    »Nein«, antwortete ich, überrascht davon, wie fest meine Stimme klang. »Um ehrlich zu sein, nein. Das ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin. Ich habe noch nie vom ... vom Karuizawa-Bären gehört.« Und dann konnte ich mich nicht länger zurückhalten. Ich drehte mich um und schaute zu dem Projektor in der Ecke, riss meinen Blick los und sah wieder Shi Chongming an. »Ich meine, ich bin nicht hier, um mit Ihnen über chinesische Heilkunde zu reden.«
    »Nicht?« Er nahm seine Brille ab und musterte mich neugierig. »Sie sind nicht deswegen hier?«
    »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ganz und gar nicht.«
    »Dann ...«, er hielt kurz inne, »... dann sind Sie hier wegen ...?« »Wegen Nanking.«
    Er setzte sich stirnrunzelnd an den Schreibtisch. »Entschuldigen Sie. Was sagten Sie noch mal, wer Sie sind?«
    »Ich bin Studentin der London University. Zumindest war ich das. Aber ich habe nicht chinesische Heilkunde studiert. Ich habe Kriegsgräuel studiert.«
    »Sie brauchen gar nicht weiterzureden.« Er hielt seine Hand hoch. »Da sind Sie beim Falschen gelandet. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
    Er wollte vom Schreibtisch aufstehen, doch ich zog eilig den Reißverschluss meiner Umhängetasche auf und holte einen eselsohrigen, von einem Gummiband zusammengehaltenen Packen Notizen heraus, ließ in meiner Nervosität einige davon fallen, klaubte sie wieder auf und klatschte den ganzen Stapel zwischen uns auf den Schreibtisch.
    »Ich habe mein halbes Leben lang den Krieg in China studiert.« Ich streifte das Gummiband ab und breitete meine Unterlagen aus. Da waren Seiten mit Übersetzungen in meiner winzigen Handschrift, Fotokopien von Zeugenaussagen aus Bibliotheksbüchern, Skizzen, die ich angefertigt hatte, um mir die Geschehnisse besser bildlich vorstellen zu können.
    »Insbesondere Nanking. Sehen Sie«, ich hielt eine zerknitterte, mit sehr kleinen Schriftzeichen bedeckte Seite hoch, »das hier bezieht sich auf die Invasion - es ist ein Stammbaum der japanischen Befehlshierarchie, es ist alles in Japanisch geschrieben, sehen Sie? Das habe ich angefertigt, als ich sechzehn war. Ich kann etwas Japanisch und Chinesisch schreiben.«
    Shi Chongming betrachtete das Ganze schweigend und schien dabei immer tiefer in seinem Schreibtischsessel zu versinken. Ein seltsamer Ausdruck trat auf sein Gesicht. Meine Zeichnungen und Diagramme sind nicht sonderlich gut, aber es macht mir nichts mehr aus, wenn Leute darüber lachen - jede einzelne stellt etwas dar, das mir wichtig ist, jede hilft mir, Ordnung in meine Gedanken zu bringen, jede erinnert mich daran, dass ich mit jedem Tag der Wahrheit über etwas, das 1937 in Nanking passiert ist, näher komme. »Und das hier ...«
    Ich entfaltete eine Zeichnung und hielt sie hoch. Es war ein DIN-A3-Blatt, in dem sich über die Jahre dort, wo es zusammengefaltet war, transparente Linien gebildet hatten. »... das hier soll die Stadt am Ende der Invasion darstellen. Es hat mich einen ganzen Monat gekostet, bis es fertig war. Das ist ein Leichenberg. Sehen Sie?« Ich starrte ihn erwartungsvoll an.
    »Wenn Sie genau hinschauen, erkennen Sie, dass alles stimmt. Sie können es gern überprüfen, wenn Sie möchten. Es sind exakt dreihunderttausend Leichen auf diesem Bild ...«
    Shi Chongming stand abrupt auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Er schloss die Bürotür, trat an das Fenster, das auf die Kyudo-Halle ging, und ließ das
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