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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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ab, und die schwarzen Schuppen fallen auf das Papier, dunkler als die Worte, die ich schreibe, da meine Tusche so verwässert ist. Das Tuschestäbchen ist aufgebraucht, und ich habe weder die Kraft noch den Mut oder den Drang hinauszugehen und ein neues zu besorgen.
    Wenn ich meinen Federhalter niederlegen, mich seitwärts gegen die kalte Wand lehnen und in dieser unbequemen Position meine Nase ganz dicht an den Fensterladen pressen würde, könnte ich den Purpurberg sehen, der schneebedeckt jenseits der zerstörten Dächer aufragt. Doch ich werde es nicht tun. Es besteht keine Notwendigkeit, meinen Körper in eine unnatürliche Haltung zu zwingen, denn ich werde nie wieder den Purpurberg anschauen. Wenn dieser Tagebucheintrag beendet ist, werde ich kein Verlangen mehr verspüren, mich daran zu erinnern, wie ich selbst auf jenen Hängen stand, eine zerlumpte, erbärmliche Gestalt, die verzweifelt versuchte, mit dem japanischen Soldaten Schritt zu halten, die wie ein Wolf seiner Fährte folgte, über die gefrorenen Bäche und Schneewehen ...
    Es ist keine zwei Stunden her. Zwei Stunden, seit ich ihn eingeholt habe. Wir waren in einem kleinen Wäldchen nahe den Pforten des Mausoleums. Er stand mit dem Rücken zu mir neben einem Baum, und der schmelzende Schnee tropfte von den Ästen auf seine Schultern. Sein Kopf war leicht vorgereckt, während er angestrengt in den Wald vor sich spähte, denn die Berghänge waren noch immer gefährliches Gelände. Die Filmkamera hing baumelnd an seiner Seite.
    Ich hatte ihn so lange verfolgt, dass ich ganz zerschunden war und hinkte und meine Lunge von der kalten Luft brannte. Ich bewegte mich vorsichtig vorwärts. Jetzt kann ich mir nicht einmal mehr vorstellen, wie ich so beherrscht bleiben konnte, denn ich zitterte von Kopf bis Fuß. Als er mich hörte, wirbelte er herum und duckte sich instinktiv in Angriffshaltung. Aber ich bin nicht sonderlich männlich, nicht stark und einen ganzen Kopf kleiner als er, und als er mich erkannte, ließ seine Anspannung ein wenig nach. Er richtete sich vorsichtig auf und beobachtete mich, während ich ein paar Schritte näher kam, bis wir nur noch zwei Meter voneinander entfernt standen und er die Tränen in meinem Gesicht sehen konnte.
    »Es wird dir nichts bedeuten«, sagte er fast bedauernd, »aber ich möchte, dass du weißt, dass es mir Leid tut. Es tut mir sehr Leid. Verstehst du mein Japanisch?«
    »Ja, tue ich.«
    Er seufzte und rieb sich mit seinem rissigen Schweinslederhandschuh die Stirn. »Es war nicht gerade das, was ich mir gewünscht hätte. Das ist es nie. Das musst du mir glauben.« Er hob seine Hand und zeigte vage in die Richtung des LingguTempels. »Es stimmt, dass - dass er es genossen hat. Das tut er immer. Aber ich nicht. Ich bin ihr Beobachter. Ich filme, was sie tun, aber es bereitet mir kein Vergnügen. Bitte, glaub mir das, es bereitet mir kein Vergnügen.«
    Ich wischte mir mit dem Ärmel das Gesicht ab, wischte die Tränen fort. Ich machte einen Schritt nach vorn und legte meine zitternde Hand auf seine Schulter. Er schreckte nicht zusammen, wich nicht zurück, sondern musterte nur verwirrt mein Gesicht. Es war keine Angst in seiner Miene zu erkennen: Er hielt mich für einen wehrlosen Zivilisten. Er wusste nichts von dem kleinen Obstmesser, das ich in meiner Hand verbarg.
    »Gib mir die Kamera«, sagte ich.
    »Das kann ich nicht. Glaub nicht, dass ich diese Filme für ihre Unterhaltung mache, für die Soldaten. Ich habe weit Wichtigeres damit vor.«
    »Gib mir die Kamera.«
    Er schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage.«
    Bei diesen Worten schien es mir, als würde sich die Welt um uns herum verlangsamen. Irgendwo auf den fernen Hängen unter uns scheuchte die japanische Sampohei- Artillerie versprengte Einheiten der Nationalisten mit schwerem Geschützfeuer aus den Bergen und trieb sie zurück in die Städte, doch von den höher gelegenen Hängen hörte ich keinen Laut, abgesehen vom Klopfen unserer Herzen und dem schmelzenden Eis um uns herum.
    »Ich habe gesagt, du sollst mir die Kamera geben.«
    »Und ich wiederhole, nein. Kommt nicht in Frage.«
    Ich beugte mich ein wenig vor und stieß ein schreckliches Geheul aus, ihm direkt ins Gesicht. Es hatte sich die ganze Zeit über in mir angestaut, während ich im Schnee seiner Fährte gefolgt war, und jetzt schrie ich wie ein verwundetes Tier. Ich stürzte mich auf ihn und rammte ihm das kleine Messer in den Leib, durch seine Uniform hindurch, bohrte es durch den
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