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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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seines Gesichts wurde von schulterlangem, schlohweißem Haar umrahmt, so als hätte er sich einen Schal aus Schnee um die Schultern drapiert. Ich stand mit offenem Mund da und brachte kein Wort heraus.
    Er legte seine flachen Hände auf die Oberschenkel und verbeugte sich vor mir. »Guten Tag«, sagte er leise in fast akzentlosem Englisch. »Ich bin Professor Shi Chongming. Und wer sind Sie?«
    »Ich ... ich bin ...« Ich schluckte. »Ich bin eine Studentin. Wenn man so will.« Ich schob ungelenk den Ärmel meiner Strickjacke hoch und streckte ihm meine Hand hin. Ich hoffte, er würde meine abgekauten Nägel nicht bemerken. »Von der University of London.«
    Er musterte mich aufmerksam, registrierte mein Gesicht, mein strähniges Haar, die Strickjacke und die große, formlose Umhängetasche. Das tut jeder bei der ersten Begegnung mit mir, und um der Wahrheit die Ehre zu geben, sosehr man sich auch bemüht, man gewöhnt sich nie wirklich daran, angestarrt zu werden.
    »Ich wollte Sie schon fast mein halbes Leben lang treffen«, sagte ich. »Ich habe neun Jahre, sieben Monate und achtzehn Tage auf diesen Moment gewartet.«
    »Neun Jahre, sieben Monate und achtzehn Tage?« Er hob
    amüsiert eine Augenbraue. »So lange? Wenn das so ist, dann kommen Sie besser herein.«
    Ich bin nicht sonderlich gut im Erraten, was andere Menschen denken, aber ich weiß, dass man Tragödien, wahre Tragödien im Blick eines Menschen erkennen kann. Wenn man aufmerksam genug hinschaut, ist man in der Lage zu sehen, was eine Person durchgemacht hat. Ich hatte so lange gebraucht, Shi Chongming zu finden. Er war über siebzig, und es erstaunte mich, dass er trotz seines Alters und trotz seiner Gefühle gegenüber den Japanern hier lebte, ein Gastprofessor an der Todai-Universität, der berühmtesten Universität Japans. Sein Büro bot einen Ausblick über die
    Kyudo-Halle der Universität, wo dunkle Bäume um die verschachtelten Ziegeldächer wogten und das einzige Geräusch die Schreie der Krähen waren, die zwischen den spitzblättrigen Eichen umherhüpften. Im Zimmer war es heiß und stickig, und die staubige Luft wurde von drei elektrischen Ventilatoren, die sich surrend hin-und herdrehten, im Raum verteilt. Ich schlich hinein, eingeschüchtert von der Tatsache, dass ich endlich hier war.
    Shi Chongming nahm einen Stapel Unterlagen von einem Stuhl. »Setzen Sie sich. Setzen Sie sich. Ich mache Tee.«
    Ich nahm auf dem Stuhl Platz, meine Füße in den derben
    Schuhen nebeneinander gestellt, die Tasche an meinen Bauch gedrückt. Shi Chongming hinkte zu einem Waschbecken in der Ecke des Büros und füllte einen elektrischen Wasserkocher, ohne sich um das Wasser zu kümmern, das dabei auf seine im Mandarinstil gearbeitete Jacke spritzte. Der Ventilator bewegte sacht die Unterlagenstapel und vergilbten alten Bücher, die sich in den deckenhohen Regalen türmten. Als ich hereingekommen war, hatte ich in einer Ecke sofort einen Projektor entdeckt. Ein verstaubtes 16-mm-Gerät, das man gerade eben zwischen den hoch aufragenden Unterlagenstapeln ausmachen konnte. Ich wollte mich umdrehen und ihn mir ansehen, doch ich wusste, dass ich das besser nicht tun sollte. Ich biss mir auf die Lippe und richtete meinen Blick starr auf Shi Chongming. Er hielt einen langatmigen Monolog über seine Forschungsarbeit.
    »Nur wenige haben eine Vorstellung davon, wann die chinesische Heilkunde ihren Weg nach Japan gefunden hat, aber man kann bis in die Tang-Periode gehen und entdeckt Beweise für ihre Existenz. Wussten Sie das?« Er brühte den Tee auf und förderte von irgendwoher einen eingeschweißten Keks zu Tage. »Der Priester Jian Zhen hat sie gelehrt, hier, an diesem Ort, im achten Jahrhundert. Jetzt gibt es überall, wo man hinschaut, Kampo-Läden. Man muss nur den Campus verlassen und ein paar Schritte gehen, und schon steht man vor einem. Faszinierend, finden Sie nicht?«
    Ich blinzelte. »Ich dachte, Sie wären Linguist.«
    »Linguist? Nein, nein. Früher, vielleicht, aber jetzt ist alles anders. Wollen Sie wissen, was ich bin? Ich sag es Ihnen - wenn Sie ein Mikroskop nehmen und sorgfältig den Schnittpunkt studieren, wo sich Ergonom und Soziologe treffen
    ...«, er lächelte und entblößte dabei lange gelbe Zähne, »...da finden Sie mich: Shi Chongming, ein sehr kleiner Mann mit einem großen Titel. Die Universität sagt mir, sie hätten mit mir einen beachtlichen Fang gemacht. Was mich interessiert, ist, wie viel von all dem hier ...«, er machte
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