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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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anderen Mann. Zuerst wandte er
    mir den Rücken zu. Jenseits von ihm, vor einem Baum, lag Shujin im Schnee. Sie hatte einen ihrer Schuhe verloren, und ihr nackter Fuß hob sich blau gegen die weiße Landschaft ab. Vor ihrer Brust hielt sie mit beiden Händen ein kleines Messer mit Lackgriff umklammert, ein scharfes Obstmesser für das Zerteilen von Mangos, die Klinge auf die beiden Männer gerichtet.
    »Lasst sie in Ruhe!«, rief ich. »Weg von ihr.«
    Als er meine Stimme hörte, drehte er sich langsam zu mir um. Er war nicht besonders groß, etwa so wie ich, doch seine Augen flößten mir Angst ein. Meine Schritte wurden langsamer. Der vergoldete Stern an seiner Mütze blitzte in der Sonne, sein Mantel mit dem Pelzkragen stand offen, sein Hemd war zerrissen, und jetzt erkannte ich, dass es seine Erkennungsmarken gewesen sein mussten, die ich gefunden hatte. Er war mir nah genug, dass ich den süßen Sake in seinem Atem riechen konnte und den Gestank von etwas Fauligem, der seiner Kleidung entströmte. Sein Gesicht war verschwitzt und fahl.
    In jenem Moment wusste ich alles über ihn. Alles über die schmutzigen Flaschen, die in der Seidenspinnerei aufgereiht standen. Über den Stößel, den Mörser, die endlose Suche ... nach einem Heilmittel. Dies war der kranke Mann, der nicht mit herkömmlicher Medizin geheilt werden konnte, der kranke Mann, der so verzweifelt war, dass er vor nichts zurückschreckte - selbst vor Kannibalismus nicht. Der Yanwangye von Nanking.
    62
    Das Neugeborene, ein Mädchen, aus dessen Bauch noch immer ein Zentimeter der Nabelschnur ragte, sah mitleiderregend winzig aus und hatte ein zerknittertes braunes Gesicht. Es war nicht sehr alt gewesen, als es starb, und durch die Mumifizierung so leicht wie ein Vogel. Seine Hände waren starr über den Kopf gereckt, so als hätte es sie in dem Augenblick, als sein Lebenslicht erlosch, nach jemandem ausgestreckt. Es besaß keine Beine, und was Fuyuki und die Krankenschwester vom Unterleib noch übrig gelassen hatten, war da, wo sie herumgeschnitten und darauf eingehackt hatten, von Kerben übersät. Es musste sterben, weil ein reicher alter Mann versessen darauf war, Unsterblichkeit zu erlangen.
    Wenn ich es nicht gefunden hätte, wäre es vielleicht für immer in dem Garten geblieben, wäre unter dem abgerissenen Haus verschwunden. In dem Moment, in dem ich die Plastiktüte entknotete und das Bündel öffnete, wusste ich, dass Shi Chongming Recht hatte: Die Vergangenheit ist wie eine Bombe, und wenn man ihre Splitter erst einmal in sich trägt, werden sie ihren Weg auch an die Oberfläche finden.
    Ich saß in seinem Büro und starrte auf einen Punkt oberhalb seines Kopfes. Die Luft im Zimmer schien abgestanden. »Ihre Tochter?«
    »Er hat sie sich im Krieg genommen. In Nanking.« Er räusperte sich. »Was denken Sie denn, wen der Film zeigt, wenn nicht Junzo Fuyuki und meine Frau?«
    »Ihre Frau?«
    » Selbstverständlich.«
    »Fuyuki? Es war dort? Er war in Nanking?«
    Shi Chongming zog seine Schreibtischschublade auf und warf etwas auf den Tisch. Zwei flache, gravierte Metallplättchen, zusammengehalten von einem alten, vergilbten Stück eines Schneidermaßbands. Da sie nicht an einer Kette hingen, brauchte ich einen Augenblick, bis ich erkannte, dass es die Erkennungsmarken eines Soldaten waren. Ich nahm sie und rieb mit dem Daumen darüber. Das Kanji war eindeutig. Winter und ein Baum. Ich sah Shi Chongming an.
    »Junzo Fuyuki.«
    Shi Chongming gab keine Antwort, öffnete die Schränke, die sich an den Wänden entlangzogen, und deutete darauf. Jedes Bord enthielt Stapel von vergilbten, zerrissenen, verkeilten und mit Band, Schnur, Gummiband oder Büroklammern
    zusammengehaltenen Dokumenten. »Mein Lebenswerk. Meine
    einzige Beschäftigung in den vergangenen fünfzig Jahren. Nach außen hin bin ich ein Soziologieprofessor, doch hinter jener Fassade beschäftigte ich mich allein mit der Suche nach meiner Tochter.«
    »Sie haben es nicht vergessen«, murmelte ich und blickte auf die Berge von Dokumenten. »Sie haben Nanking nie vergessen.«
    »Nie. Was glauben Sie denn, warum ich so gut Englisch spreche, wenn nicht, um meine Tochter zu finden und es eines Tages der ganzen Welt mitzuteilen?« Er nahm einen Stapel Papiere heraus und ließ ihn mit einem lauten Knall auf den Schreibtisch fallen. »Können Sie sich vorstellen, was ich alles auf mich nehmen musste, wie viel Zeit es mich gekostet hat, Fuyuki aufzuspüren? Wissen Sie, wie viele alte Männer
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