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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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es in Japan gibt, deren Name Junzo Fuyuki lautet? Hier stehe ich, ein unscheinbarer Mann, international anerkannt für meine Arbeit auf einem Fachgebiet, das mich nicht im Geringsten interessiert, dessen einziger Vorteil darin besteht, dass es meine wahren Absichten verbirgt und mir erlaubt, diese Unterlagen einzusehen.« Er reichte mir das oberste Blatt. Eine Fotokopie mit dem Stempel des Archivs des Oberkommandos der Landstreitkräfte. Jetzt fiel mir wieder ein, dass mir der gleiche Stempel auch auf einigen der Dokumente in seiner Mappe aufgefallen war, die er mir vor Wochen gezeigt hatte.
    »Einsatzberichte der kaiserlichen Truppen. Kopien. Die Originale - zumindest jene, die den Transport zwischen hier und den Vereinigten Staaten während der Besatzungszeit überstanden haben - sind bestens geschützt. Doch ich hatte Glück, nach jahrelangem Antragstellen wurde mir Zugang zu den Archiven gewährt, und dort fand ich, wonach ich suchte.«
    Er nickte. »Ja. Es gab 1937 in Nanking nur einen Oberleutnant Junzo Fuyuki. Nur einen einzigen. Der Yanwangye von Nanking. Der Teufel - der Wächter der Hölle. Der Mann, der Jagd auf Menschenfleisch machte, um sich damit zu heilen.«
    Er rieb sich die Stirn. »Wie all die anderen Soldaten, wie praktisch jeder Japaner, der nach dem Krieg aus China zurückkehrte, brachte Fuyuki eine Schachtel mit.« Shi Chongming deutete mit den Händen Größe und Form an. »Sie hing um seinen Hals.«
    »Ja«, hauchte ich. Ich erinnerte mich daran. Eine weiße Holzschatulle, ausgestellt im Korridor des Apartments neben dem Tokyo Tower. Sie hätte die Asche eines gefallenen Kameraden nach Japan zurückbringen sollen, doch Fuyuki hatte sie für einen anderen Zweck benutzt.
    »Und mit dem Baby brachte er noch etwas anderes mit.« Shi Chongming blickte traurig auf die Berge von Dokumenten. »Er brachte die Trauer eines Vaters mit. Er zog ein Band hinter sich her ... ein Band von hier ...«, er legte die Hand auf das Herz,
    »... bis in die Ewigkeit. Ein Band, das nicht zerschnitten oder gelöst werden kann. Niemals.«
    Wir schwiegen lange. Schließlich wischte Shi Chongming
    sich über die Augen, erhob sich und ging langsam durch den Raum. Dann rollte er den Projektor in die Mitte, stöpselte ihn in die Steckdose und schlurfte zu einer kleinen, tragbaren Leinwand, die neben dem Fenster stand. Er entrollte sie und befestigte sie unten am Ständer. »Es ist so weit«, sagte er, während er eine Schublade aufschloss und eine rostige Filmdose herausholte. Er löste den Deckel. »Das erste Mal, dass jemand ihn sieht. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mann, der dies gefilmt hat, Reue empfunden hat. Dass er den Film nach seiner Rückkehr in Japan publik gemacht hätte. Und doch ist er tot, und hier ist der Film. Bis zu diesem Tag in meiner Obhut.« Er schüttelte den Kopf und lächelte bitter. »Die Ironie des Schicksals.«
    Als ich nicht reagierte, trat er vor und hielt mir die Dose hin, damit ich hineinschauen konnte.
    »Sie werden ihn mir zeigen«, flüsterte ich und starrte auf den Film. Es war so weit: die Manifestation der Worte in dem orangefarbenen Buch, das Zeugnis, nach dem ich all die Jahre gesucht, der Beweis, dass ich es mir nicht eingebildet, dass ich mir jene Einzelheit, jene über alles bedeutsame Einzelheit nicht ausgedacht hatte.
    »Ja, Sie denken, Sie wüssten, welche Empfindungen dieser Film in Ihnen wachrufen wird, nicht wahr? Sie haben jahrelang die Geschehnisse in Nanking recherchiert und jede Schilderung darüber gelesen. Sie haben diesen Film hundertmal in Ihrem Kopf abgespielt. Sie denken, Sie wüssten, was Sie erwartet, und Sie denken, das wäre Grauen genug. Stimmt's?«
    Ich nickte.
    »Nun, Sie irren sich. Sie werden mehr zu sehen bekommen
    als das.« Er setzte seine Brille auf und legte den Film ein, beugte sich dicht über den Projektor, um ihn durch das komplizierte Spulensystem zu fädeln. »Sie werden das alles sehen und mehr. So abscheulich Sie sich die Tat auch vorstellen, so abscheulich der Yanwangye von Nanking auch ist, jemand in diesem Film ist noch abscheulicher.«
    »Wer?«, fragte ich flüsternd. »Wer ist noch schlimmer?«
    »Ich bin es. Ich. Sie werden schon sehen, weit abscheulicher als Fuyuki.« Er räusperte sich und schaltete das Licht aus. Ich hörte ihn in der Dunkelheit nach dem Projektor tasten. »Dies ist einer der wahren Gründe, weshalb niemand je diesen Film gesehen hat. Weil ein alter Mann, der tausend weise Worte darüber gesprochen hat, dass
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