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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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schleppenden Schritten, humpelte ein wenig, musste sich immer wieder an Bäumen abstützen.
    Niemand rührte sich. Der zweite Soldat stand ein paar Meter entfernt im Schnee, den Kopf gesenkt, das Gesicht in den Händen vergraben. Selbst Fuyuki verharrte einen Moment reglos. Dann drehte er sich um, sagte etwas zur Kamera und hob das Baby an einem Bein hoch - inspizierte es wie ein gehäutetes Kaninchen.
    Ich hielt den Atem an. Dies war der entscheidende Moment. Fuyuki musterte das Baby mit einem seltsam forschenden Blick, so als wüsste es die Antwort auf eine wichtige
    Frage. Dann zog er mit seiner freien Hand den Gummigürtel aus seinem Hosenbund, knotete ihn um den Fußknöchel des
    Kindes und band es fest um seine Taille, ließ es herabbaumeln, kopfüber, mit dem Gesicht an seinem Bein. Es wand sich einen Moment lang, ballte seine Händchen.
    Ich beugte mich vor, umklammerte die Armlehnen. Ja, ich
    hatte Recht gehabt. Die Hände des kleinen Mädchens bewegten sich. Ihr Mund öffnete sich einige Male, ihre Brust hob und senkte sich, und ihr Gesicht verzerrte sich zu einem Schrei. Sie lebte. Sie bewegte sich und streckte blind die Hände aus, versuchte instinktiv, Fuyukis Bein zu greifen. Als er sich umdrehte, verlor sie den Halt und schwenkte in einem weiten Bogen von seinem Körper weg, wie der wallende Rock einer Tänzerin. Er drehte sich einmal, zweimal, produzierte sich für die Kamera, ließ ihren kleinen Leib gegen seinen Schenkel prallen, während er lächelnd etwas sagte. Als er innehielt und das Baby wieder zur Ruhe kam, streckten sich seine kleinen Hände von neuem nach ihm aus.
    Die letzten Bilder des Films liefen durch die Spulen, und dann war es vorbei. Ich fühlte mich, als ob mir jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt hätte, sackte nach vorn und fiel auf die Knie. Die Leinwand war leer. Shi Chongming schaltete den Projektor aus und sah mich an. Die alte Uhr auf dem Kaminsims tickte.
    »War es so, wie Sie erwartet hatten?«
    Ich fuhr mir mit dem Ärmel über das Gesicht. »Ja«, sagte ich. »Sie hat gelebt. Genau, wie es in dem Buch stand. Die Babys haben gelebt, als sie herausgeholt wurden.«
    »O ja«, hauchte Shi Chongming. »Ja, sie war lebendig.«
    »Jahrelang ...«, ich hob meinen Arm, um mir die Augen abzuwischen, »...jahrelang dachte ich, ich hätte - ich hätte mir das nur eingebildet. Alle haben gesagt, dass ich verrückt wäre, dass ich es mir ausgedacht hätte, dass kein Kind so etwas überleben könnte.« Ich kramte in meiner Tasche nach einem Taschentuch, knüllte es zusammen und tupfte mir die Augen ab. »Ich weiß jetzt, dass ich es mir nicht eingebildet habe. Das war alles, was ich wissen wollte.«
    Ich hörte, wie er sich an den Schreibtisch setzte. Als ich aufsah, starrte er aus dem Fenster. Draußen schienen die Schneeflocken zu leuchten, so als würden sie von unten angestrahlt. Ich erinnere mich daran, dass sie mir wie kleine Engel erschienen, die auf die Erde fielen.
    »Ich werde niemals wissen, wie lange sie gelebt hat«, sagte er. »Ich bete, dass es nicht lange war.« Er rieb sich die Stirn und zuckte mit den Achseln. »Ich habe gehört, dass Fuyuki danach genesen ist. Er hat meine Tochter umgebracht, und kurz darauf sollen seine Symptome verschwunden sein. Es war ein Placeboeffekt, ganz und gar zufällig. Die Malaria wäre sowieso nach und nach abgeklungen, und über die Jahre hätten die Anfälle nachgelassen, auch ohne ...«
    Unsere Blicke begegneten sich. Und während ich dort auf
    dem Fußboden von Shi Chongmings Büro kniete, kam mir die schreckliche Erkenntnis, dass es kein Entkommen gab. Tod oder lebendig, unsere Kinder würden uns ein Leben lang begleiten. Ich würde genau wie Shi Chongming in alle Ewigkeit mit meiner toten Tochter verbunden sein.
    Ich stand auf sagte leise mit gesenktem Kopf: »Mein kleines Mädchen ist ebenfalls gestorben. Deshalb bin ich hier. Wussten Sie das?«
    »Ich weiß nicht, warum Sie zu mir gekommen sind.«
    »Weil ich es getan habe, verstehen Sie? Ich war es.« Ich wischte mit dem Handballen meine Tränen weg. »Ich habe sie eigenhändig umgebracht - mein kleines Mädchen -, mit einem Messer.« Shi Chongming schwieg, und seine Miene drückte Verwirrung aus.
    »Ich weiß. Es ist schrecklich, und ich habe keine Entschuldigung dafür, dass ich ... dass ich Tränen deswegen vergieße. Aber ich habe es nicht mit Absicht getan - sie getötet. Ich dachte, sie würde überleben. Ich hatte von den Babys in Nanking gelesen, in dem
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