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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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man sich der Vergangenheit stellen muss, seine eigene einfach nicht akzeptieren kann.«
    Das Laufwerk des Projektors sprang an, und das Büro war
    von dem Geräusch erfüllt, mit dem der Zelluloidstreifen durch das Bildfenster ratterte.
    Shi Chongming hatte gewusst, wie er den Film materialgerecht aufbewahren musste. Es gab keine Auflösung, kein Abplatzen, keine Zersetzung von Polymeren. Keine Schatten oder Verzerrungen.
    Die ersten Bilder liefen durchs Fenster, nahmen auf der Leinwand Gestalt an. Ein Mann erschien: Mager, verängstigt stand er in der Mitte eines verschneiten Waldes. Seine Haltung war geduckt, sprungbereit, und er starrte mit irrem Blick in die Kamera, so als würde er sich jeden Moment auf sie stürzen. Meine Nackenhaare richteten sich auf. Dies war Shi Chongming. Shi Chongming als junger Mann. Wie in einer anderen Welt. Er machte einen Schritt auf die Kamera zu und schrie ohne Ton das Objektiv an. Es sah aus, als wollte er gerade einen Satz nach vorn machen, als ihn etwas außerhalb des Blickfelds ablenkte. Er drehte sich um und lief in die entgegengesetzte Richtung. Die Kamera folgte ihm ruckend einen Pfad entlang. Shi Chongming ruderte wild mit den Armen, während er über Äste und Gräben sprang. Er war so dünn wie ein Strichmännchen. Vor ihm, am Ende des Pfads, tauchten zwei unscharfe Gestalten auf, eingemummt in pelzgefütterte Mäntel, ihre Rücken zur Kamera gewandt. Sie standen sehr dicht nebeneinander und sahen auf etwas am Boden.
    Der Projektor ratterte geräuschvoll, und als die Kamera ruckend näher an die Gestalt heranging, schaute sich einer der beiden überrascht um. Mit ausdruckslosen Augen nahm er zuerst den winzigen Chinesen wahr, der mit ausgestreckten Armen auf ihn zugerannt kam, dann die Kamera. Shi Chongming verlangsamte seine Schritte, und - der Kameramann musste die Kamera gesenkt haben — einen Moment lang sah ich nur Schnee und Füße.
    Über das Rattern des Projektors konnte ich mir die Geräuschkulisse auf dem Berghang vorstellen, das Keuchen, Klappern, Rasseln und Surren, das Knacken von Ästen unter Stiefeln. Dann wurde die Kamera wieder angehoben, und diesmal war sie näher an der Szene, knapp einen halben Meter hinter dem zweiten Mann. Es folgte eine Pause, ein deutliches Zögern. Die Kamera bewegte sich herausfordernd vorwärts, pirschte sich an ihn heran, und plötzlich drehte er sich um und starrte direkt ins Objektiv. Ein Stern an seiner Mütze fing die Sonnenstrahlen ein und blitzte kurz auf.
    Mir stockte der Atem. Es war so leicht, einen Menschen nach über fünfzig Jahren wiederzuerkennen. Ein junges Gesicht, wie aus Holz geschnitzt und krank, sehr krank. Grau und verschwitzt. Doch die Augen waren dieselben. Die Augen und die kleinen Katzenzähne, als er das Gesicht verzog.
    Der Kurbelmechanismus der Kamera musste in diesem Augenblick zum Stillstand gekommen sein, denn das Bild verschwand; eine ruckende Schnittstelle ratterte durch den Projektor wie ein Zug kurz vor dem Entgleisen, und plötzlich sah man Fuyuki aus einem anderen Blickwinkel, schwitzend und keuchend, so dass sein Atem kleine Dampfwolken bildete. Er hatte sich leicht vorgeneigt, und als die Kamera zurückzog, erkannte man, dass er ein Bajonett auf sein Gewehr aufpflanzte. Zu seinen Füßen lag eine Frau auf dem Rücken, ihr Qipao über der Taille hochgezogen, ihre Hose zerrissen, so dass die dunkle Wölbung ihres Bauchs zu sehen war. In den Händen hielt sie ein kleines Messer.
    »Meine Frau«, sagte Shi Chongming leise, seine Augen starr auf das Bild gerichtet, so als würde er einen Traum betrachten.
    »Das war meine Frau.«
    Fuyuki rief etwas in die Kamera. Er winkte und grinste, bleckte dabei die Katzenzähne. Die Kamera wich langsam zurück, und der Blickwinkel wurde weiter, fing den Hang, mehr Bäume, ein Motorrad, das an einem der Bäume lehnte, ein. In der Ecke des Bildausschnitts sah ich den zweiten Soldaten. Er hatte seinen Mantel ausgezogen und hielt mit seinen massigen Armen Shi Chongming fest, dessen Mund in einem stummen Schrei aufgerissen war. Er wand und wehrte sich, doch der Soldat hielt ihn eisern im Griff. Niemand kümmerte sich um sein Flehen. Alle Augen waren auf Fuyuki gerichtet.
    Was als Nächstes geschah, hatte jahrelang in mir gelebt. Es hatte als ein bloßer Satz auf einer Seite in meinem Elternhaus begonnen, doch jetzt wurde ich Zeuge der Realität. Die Sache, von der alle behaupteten, sie wäre eine Ausgeburt meiner Phantasie, war nun eine Wahrheit, die in
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