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Tokio

Tokio

Titel: Tokio
Autoren: Mo Hayder
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Sonnenschein, und wir standen inmitten der Bäume auf dem Purpurberg oberhalb von Nanking. Zu unseren Füßen befand sich eine frisch ausgehobene, flache Grube. Shi Chongming hielt ein kleines, in Leinen gewickeltes Bündel im Arm. Es war nicht schwer gewesen, die Stelle zu finden, an der er seine Tochter aufgegeben hatte. Doch einiges auf dem Berg hatte sich über jene dreiundfünfzig Jahre verändert. Jetzt blitzten kleine Seilbahnen, die Touristen den Berg hinaufbeförderten, rot zwischen den Bäumen auf. Die Stadt unter uns war zu einer modernen Metropole des zwanzigsten Jahrhunderts geworden, atemberaubend mit ihren
    Wolkenkratzern und elektronischen Reklamen. Doch andere Dinge waren so unverändert, dass Shi Chongming in Schweigen verfiel, als er sie betrachtete: die Sonne, die auf dem Bronze-Azimut funkelte, die Schwarztannen, deren Äste sich unter der Last des Schnees bogen, die erhabene Steinschildkröte, die teilnahmslos auf die Bäume starrte. Wir hatten die Reste des Babys in weißes Leinen gehüllt und darauf einen kleinen Zweig gelben Winterjasmins gebunden. In einem Geschäft auf der Blumenregenterrasse hatte ich einen weißen Qipao gekauft, damit ich mich für die Beisetzung traditionell kleiden konnte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Weiß trug, und ich fand, dass ich hübsch darin aussah. Shi Chongming hatte einen Anzug mit einer schwarzen Armbinde an. Er erklärte, dass es nicht der Sitte entsprach, wenn ein chinesischer Vater zur Beerdigung seines Kindes erschien. Er sagte, während er in die Grube stieg, dass er nicht hier sein und schon gar nicht in einem Grab stehen und dieses kleine Bündel der Erde überantworten sollte. »Aber«, flüsterte er, während er Erde auf das winzige Leichentuch scharrte,
    »was ist noch so, wie es sein soll?«
    Ich schwieg. Eine Libelle beobachtete uns. Es kam mir seltsam vor, dass ein Insekt, das im Winter gar nicht lebens-fähig war, auf einem Ast nahe dem Grab saß und uns dabei zusah, wie wir ein Kind beerdigten. Ich starrte die Libelle an, bis Shi Chongming mich am Arm fasste, ganz leise etwas sagte und ich mich wieder zum Grab umwandte. Er zündete ein kleines Räucherstäbchen an und steckte es in den Boden. Ich bekreuzigte mich, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Dann gingen wir durch den Wald zurück zum Wagen. Hinter uns erhob sich die Libelle von ihrem Ast, und der Rauch des Räucherstäbchens schwebte wie eine sich langsam öffnende Blüte über die Ahornbäume zum Bergkamm und weiter in den blauen Äther hinauf.
    Shi Chongming starb sechs Wochen später in einem Krankenhaus an der Zhongshan-Straße. Ich saß an seinem Sterbebett. In seinen letzten Tagen stellte er mir immer wieder eine Frage: »Sagen Sie mir, was denken Sie, was es empfunden hat?« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Mir ist immer klar gewesen, dass ein Menschenherz sich nach nichts mehr als nach der Nähe eines anderen Menschenherzen sehnt, warum sollte das Herz eines Babys anders sein? Doch das sagte ich Shi Chongming nicht, denn ich war sicher, dass er sich gefragt haben muss, ob der einzige Mensch, dem seine Tochter ihr Herz geöffnet, für den sie Liebe empfunden hatte, Junzo Fuyuki war.
    Und wenn ich Shi Chongming nicht antworten konnte, habe
    ich dann die geringste Chance, dir zu antworten, meine namenlose Tochter. Ich kann dir nur versichern, dass ich in Unwissenheit gehandelt habe, dass ich jeden Tag an dich denke, auch wenn ich niemals im Stande sein werde, dein Leben, deine Existenz zu ermessen? Vielleicht warst du niemals eine Seele, hast jene Stufe nie erreicht. Vielleicht warst du nur eine kleine Mondseele.
    Ich werde nie aufhören, mich zu fragen, wo du bist - ob du in einer anderen Welt wieder auftauchen wirst, ob du es bereits getan hast, ob du jetzt in Frieden lebst, in Liebe, in einem fernen Land, das ich niemals betreten werde. Doch einer Sache bin ich mir gewiss: Wenn du zurückgekehrt bist, dann ist das Erste, was du tun wirst, dein Gesicht der Sonne entgegenzustrecken. Denn, mein verloren gegangenes Kind, wenn du überhaupt etwas gelernt hast, dann, dass in dieser Welt niemandem von uns sehr viel Zeit bleibt.
    Anmerkungen
    der Autorin
    1937, vier Jahre bevor die USA infolge des Angriffs auf Pearl Harbor in den Pazifikkrieg eintraten, überfielen japanische Truppen das chinesische Festland und stürmten die Hauptstadt Nanking. Die darauf folgenden Geschehnisse übertrafen die schlimmsten Befürchtungen der chinesischen
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