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Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr

Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr

Titel: Tokio Killer05 - Riskante Rückkehr
Autoren: Barry Eisler
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Altstadtviertels Barri Gòtic. Ich spürte, dass ich jene flüchtige kleine Spanne zwischen dem Verschwinden der letzten Nachtschwärmer und der Ankunft der ersten Frühaufsteher erwischt hatte, und verharrte, genoss das Gefühl, eine geheime Verwandlung miterleben zu dürfen. Ich spazierte lange umher, lauschte auf den Klang meiner Schritte in den engen Gassen, genoss den Duft von frischem Brot und gemahlenem Kaffee, beobachtete, wie die Bewohner des Viertels aus den jahrhundertealten Fassaden ihrer Häuser hervorkamen, um einen neuen Tag zu beginnen.
    Nach einem Frühstück, das aus einem Croissant und einem Café cortado bestand, stattete ich dem Ganiveteria Roca einen Besuch ab, einem bekannten Messerwarengeschäft, das in meinem Reiseführer erwähnt wurde. In dem Laden, der auch Rasierzubehör und Scheren in Hülle und Fülle anbot, suchte ich mir ein Benchmade-Klappmesser mit einer Siebeneinhalb-Zentimeter-Klinge aus. Ich hatte mich seit rund einem Jahr daran gewöhnt, immer ein Messer dabei zu haben, und fühlte mich nicht mehr wohl, wenn ich keines griffbereit hatte.
    Jetzt, da ich wieder ordentlich ausgestattet war, machte ich mich wie üblich daran, die Stadt systematisch zu erkunden. Ich würde mich erst entspannen können, wenn ich wusste, wie ich am besten mit der Umgebung verschmolz oder wie ich fliehen konnte, sollten meine Verschmelzungsversuche scheitern. Also lief ich an diesem Tag und in den fünf Tagen und Nächten danach alles ab, zu jeder Zeit, zu Fuß und mit allen möglichen Verkehrsmitteln. Ich verinnerlichte den Verlauf von Straßen und Gassen, die Positionen von Polizeiwachen und Überwachungskameras, die Rhythmen von Fußgängern und Touristen und Ladenbesitzern.
    Aber es gab so viele Ablenkungen: das Duftgemisch von lapas und Schawarma in den verwinkelten Gässchen des Viertels El Raval; die Musik und das Gelächter auf den Plätzen des Stadtteils Gràcia; die Meeresbrise im Gesicht, als ich oben auf dem Montjuїc und Tibidabo stand. Mir gefiel, dass eine Morgenmesse in sechshundert Jahre alten Kathedralen und Kirchen für die Einheimischen etwas ganz Selbstverständliches war. Mir gefielen die Gegensätze: gotisch und modernistisch, Berge und Aleer, jahrhundertealte Geschichte und überschwängliche Lebensfreude.
    Und die Ablenkungen beschränkten sich nicht auf die Stadt allein. Auf einmal nahm ich Eltern mit Kindern wahr. Sie waren überall: Sie schoben ihre Babys im Kinderwagen, hielten sie auf dem Arm, bestaunten die kleinen Gesichter mit verzückter Hingabe. Tatsu, mein früherer Gegner und gegenwärtiger Freund bei der Keisatsucho, dem japanischen FBI, hatte mir prophezeit, dass das passieren würde, und er hatte, wie in so vielen anderen Dingen, recht behalten.
    Auf eines hatte Tatsu mich allerdings nicht vorbereitet, nicht vorbereiten können: Auf welch mannigfache Weise die Neuigkeit über Midori mich verunsichert, verwirrt, fast geschockt hatte. Um ein Haar hätte ich das Treffen mit Delilah abgesagt, habe mich aber dann doch anders entschieden. Zum einen schuldete ich ihr eine Erklärung. Zum anderen wollte ich sie trotzdem sehen – und zwar sehr.
    Ich hätte nie gedacht, dass ich eine solche Zuneigung zu Delilah entwickeln würde, und sie offenbar zu mir. Unsere ersten Begegnungen hatten auch nicht gerade unter einem günstigen Stern gestanden. Zuerst in Macau, wo wir feststellten, dass wir auf dieselbe Zielperson angesetzt waren. Dann in Bangkok und Hongkong, wo sie auf mich angesetzt gewesen war. Und dennoch konnte das Misstrauen, das man automatisch hat, wenn man für konkurrierende Geheimdienste arbeitet – Delilah für den Mossad, ich damals freiberuflich für die CIA –, unsere gegenseitige Zuneigung nicht zerstören. Jeder von uns erkannte in dem anderen einen Profi mit festen Grundsätzen, jemanden, für den die Erfordernisse des Jobs stets Vorrang vor seinen persönlichen Wünschen haben würden. All das wurde die Basis für Respekt, ja gegenseitiges Verständnis, und bildete letzten Endes den Rahmen dafür, dass wir die Chemie, die zweifellos zwischen uns stimmte, genießen konnten. Wohin das noch führen sollte, das wussten wir beide nicht. Warum aber sollten wir das, was wir hatten, nicht in vollen Zügen auskosten, solange es währte?
    Wir hatten einen Monat zusammen in Rio verbracht, und danach hatte Delilah ihren Geldgebern die Stirn geboten, als sie sie beauftragten, mich in eine Falle zu locken. Mehr als das, sie hatte sie praktisch verraten. Sie hatte
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