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Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag

Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag

Titel: Tokio Killer 01 - Der erste Auftrag
Autoren: Barry Eisler
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umklammerte mit der rechten Hand eine der Haltestangen neben der Tür und hielt mit der anderen seine Obsttüte fest, während die Pendler an ihm vorbeidrängten. Ich sah zu, wie er sich gegen den Uhrzeigersinn drehte, bis sein Rücken gegen die Wand neben der Tür stieß. Sein Mund stand offen; er sah ein wenig verblüfft aus. Dann rutschte er langsam, beinahe anmutig zu Boden. Ich sah, dass sich ein Passagier, der in Yoyogi zugestiegen war, bückte, um ihm zu helfen. Der Mann war ein Westler, etwa Mitte vierzig, so groß und dünn, dass ich an einen Speer denken musste, und mit seiner rahmenlosen Brille wirkte er irgendwie aristokratisch. Er rüttelte Kawamura an der Schulter, aber Kawamura nahm den Hilfeversuch des Fremden schon nicht mehr wahr.
    «Daijoubu desu ka?», fragte ich und schob meine linke Hand hinter Kawamuras Rücken, um ihn zu stützen und zugleich nach dem Magneten zu tasten. Was hat er denn? Ich sprach Japanisch, weil der Westler es wahrscheinlich nicht verstand und unsere Interaktion damit auf ein Minimum beschränkt bliebe.
    «Wakaranai», murmelte der Fremde. Ich weiß nicht. Er tätschelte Kawamura die bläulich anlaufenden Wangen und schüttelte ihn erneut – ein wenig grob, wie ich fand. Er sprach also doch ein wenig Japanisch. Es spielte keine Rolle. Ich fand den Magneten und zog ihn ab. Kawamura war hinüber.
    Ich trat an den beiden vorbei auf den Bahnsteig, und schon setzte hinter mir der Ansturm auf den Zug ein. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick durch das Fenster gleich neben der Tür und sah erstaunt, dass der Fremde Kawamuras Taschen durchsuchte. Mein erster Gedanke war, dass Kawamura ausgeraubt wurde. Ich trat näher ans Fenster, um besser sehen zu können, doch das wachsende Gedränge der Fahrgäste versperrte mir die Sicht.
    Ich hatte den spontanen Impuls, wieder einzusteigen, aber das wäre töricht gewesen. Außerdem war es dazu bereits zu spät. Schon glitten die Schiebetüren zu. Ich sah, wie sie sich schlossen und von etwas aufgehalten wurden, vielleicht von einer Handtasche oder einem Fuß. Sie öffneten sich ein kleines Stück und glitten dann wieder zu. Es war ein Apfel, der auf die Gleise fiel, als der Zug davonfuhr.

2
    VON SHINJUKU AUS fuhr ich mit der U-Bahn-Linie Marunouchi bis nach Ogikubo im äußersten Westen der Stadt. Eigentlich war es eher schon ein Vorort von Tokio. Ich wollte einen letzten GAG – Gegenaufklärungsgang – unternehmen, ehe ich meinen Kunden kontaktierte, um ihn über den Ausgang der Operation Kawamura in Kenntnis zu setzen, und die Fahrt in westlicher Richtung führte gegen den hereinströmenden Hauptverkehr, wodurch es leichter wurde, eventuelle Verfolger auszumachen.
    Ein GAG ist genau das, was der Name besagt: ein Weg, der einen eventuellen Beschatter zwingen soll, sich zu zeigen. Harry und ich hatten natürlich schon heute Morgen auf dem Weg nach Shibuya und zu Kawamura sämtliche Vorsichtsmaßnahmen getroffen, aber ich gehe nie davon aus, dass ich im Augenblick sauber bin, nur weil ich vorher sauber war. In Shinjuku ist das Menschengedränge so dicht, dass einem zehn Leute folgen könnten, ohne dass man auch nur einen bemerken würde. Dagegen ist es so gut wie unmöglich, jemanden unauffällig auf einem langen, menschenleeren Bahnsteig mit mehreren Ein- und Ausgängen zu verfolgen, und die Fahrt nach Ogikubo verschaffte mir den Seelenfrieden, den ich mittlerweile brauche.
    Früher mussten Geheimdienstler, wenn sie Kontakt zu einem Informanten aufnehmen wollten, der so geheim war, dass ein Treffen nicht in Frage kam, auf tote Briefkästen zurückgreifen. Der Informant deponierte dann zum Beispiel Mikrofiches in einem hohlen Baum oder versteckte sie in irgendeinem vergessenen Buch in der öffentlichen Bücherei, und der Spion kam später vorbei und holte sie ab. Niemals durften die beiden gleichzeitig am selben Ort sein.
    Mit dem Internet ist das alles einfacher geworden und sicherer. Der Kunde gibt eine verschlüsselte Nachricht in ein so genanntes Bulletin Board, das elektronische Äquivalent zu einem hohlen Baum. Ich lade die Nachricht über ein anonymes öffentliches Telefon herunter und dechiffriere sie. Und umgekehrt.
    Der Nachrichtenverkehr beschränkt sich auf ein Minimum. Ein Name, ein Foto, persönliche und auftragsrelevante Infos. Eine Kontonummer mit Bankleitzahl. Eine Erinnerung an meine drei Bedingungen: keine Frauen oder Kinder, keine Aktionen gegen Personen, die nicht Hauptakteure sind, keine dritte Partei, die mit der
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