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Töten Ist Ein Kinderspiel

Töten Ist Ein Kinderspiel

Titel: Töten Ist Ein Kinderspiel
Autoren: Corinna Waffender
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dankbar an. Erst die starken Betäubungsmittel gaben ihm die nötige Ruhe, klar zu denken. Wenn der in ihm wütende Schmerz, der längst nicht mehr verortbar war, sich sanft von ihm distanzierte und ihn von Weitem betrachtete, ließ sich Ingo Mangold in einen Standby-Modus fallen. Die Gedanken glitten dann wie Filmszenen vor seinen Augen vorbei und, erstaunlich wach, analysierte er seine eigene Katastrophe.
    Er war mit seiner Melancholie auf die Welt gekommen. Mit den Jahren war die Dunkelheit in seinem Inneren zu einem gigantischen Krater geworden, der geduldig darauf wartete, ihn einzusaugen, ihn zu umhüllen, die Luft mit dem Gift, das er spie, zu zersetzen. Sich dagegen zu wehren, erschöpfte ihn, die Erschöpfung ängstigte ihn und die Angst machte ihn rasend. Er schrie, er tobte, und er rief nach Erika. Die ihre Hand ausstreckte und mit ihm am Abgrund stehen blieb. Mehr nicht. Keine Rettung. Kein Licht am Ende des Tunnels. Aber die Hoffnung, solange sie an ihn glaubte.
    Wann hatte sie die Zuversicht verloren? Seit wann wollte sie ihn anders, als er war, hatte ihr die verzweifelte Sehnsucht zwischen ihnen nicht mehr gereicht und war dem stummen Vorwurf gewichen? Warum kannst du es nicht gut sein lassen? Sie hatte es niemals ausgesprochen, aber er hatte es wieder und wieder gehört. Er wusste genau, warum er sich noch mit über fünfzig wie ein ausgesperrter Bub fühlte, der nach Hause wollte. Doch er konnte nicht verhindern, dass der erwachsene Mann, der er war, ihm immer wieder den Weg dahin abschnitt. Und auch nicht, dass allein die Vorstellung, dabei ertappt zu werden, einen erbarmungslosen Zerstörungsmechanismus in ihm auslöste. Dann wanderte das Gift grollend durch seinen Körper, weckte die Wut, die seinen Verstand überrollte und vordrang bis zur Kehle, auf Zunge und Lippen, bis seine Stimme zu einem Orkan anschwoll und seine Worte zu Waffen wurden. Der Krieger in ihm erwachte, und er metzelte jeden Angriff nieder. Kam Erika zuvor, richtete sich selbst, immer nah an ihrem Gesicht, ihren Händen, sie durfte nicht gehen, er durfte sie nicht verlieren. Aber sie sollte es zugeben. Immer wieder.
    „Sag doch, dass du mich verachtest, hör doch auf zu lügen!“
    Sie hatte aufgehört, dagegen zu reden, machte ihm schon lange keine Hoffnungen mehr. Sie ließ ihn los, sobald seine Stimme sich überschlug.
    In letzter Zeit war es fast unmöglich geworden, sie aus der Reserve zu locken. Daran war Valero Schuld, da war er sicher. Mit seinem Auftauchen vor ein paar Wochen war gänzlich alles aus den Fugen geraten, und Erika ihrem Mann noch fremder geworden.
    „Du machst dich lächerlich, Ingo. Werd endlich erwachsen, solange du es noch kannst.“
    Er hatte mit seiner allerletzten Kraft nach dem erstbesten Gegenstand gegriffen und ihr das Radio krachend vor die Füße geworfen, um etwas zwischen sich und sie zu bringen, um zu verhindern, dass er sie grob an den Handgelenken nähme, vielleicht gegen die Wand stieße, damit sie aufhörte, ihn zu provozieren, und sähe, wie außer sich er war, wie allein, wie sehr schon ohne sie.
    Später, nachdem er ins Bad gegangen war und vor Erschöpfung, Schmerz und Verzweiflung leise geweint hatte, während sie die Einzelteile des Radios feinsäuberlich auf die Tischplatte legte und den Rest zusammenkehrte, hatte sie ihre Hand auf seine Brust gelegt und ihm durch die Haare gestrichen. War für einen winzigen Moment auf ihn zugekommen.
    „Alles wird gut, glaub mir.“
    Er hatte nur stumm genickt und sich gefühlt wie ein Spielball ihrer Gefühle, nach dem er am liebsten getreten hätte. Denn sich hasste er in diesen Momenten am meisten. Dieses tollwütige, kreischende Ungeheuer, zu dem er wurde, wenn er sich in die Enge getrieben fühlte, als ob er mit dem Klang seiner Stimme einen Sturm entfesseln könnte, der alles von ihm fernhielt, was er nicht hören mochte. Bis seine Augen sich scharf stellten, blitzschnell die Umgebung abscannten, nach etwas, das zerbrechen würde an ihm, der Schwerkraft ausgesetzt, zerschellte auf dem Boden oder an der Wand. Etwas, das er mit schlafwandlerischer Sicherheit fand: sein liebstes Ding. Erst wenn sein Handy geborsten war, sein Lieblingsfüller blaue Tintenspritzer auf dem Holzfußboden hinterlassen, der Stahlschrank eine Delle hatte oder seine Handkante zu schwellen begann, wurde es besser. In der kurzen Stille nach der Sprengung und vor der Verzweiflung über das, was er angerichtet hatte, atmete er aus. Spürte, dass er sich einmal mehr
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