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Toedliches Geheimnis

Titel: Toedliches Geheimnis
Autoren: Laurie Faria Stolarz
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über die Klippe gestoßen hat, und die Polizei hätte bei der Durchsuchung seines Rucksacks eine Rolle Gewebeband, ein Messer mit langer Klinge und eine Liste mit weiteren Opfern gefunden.
    Den letzten Block des Tages haben Kimmie und ich frei. Wir schleichen ein paar Minuten früher aus der Bibliothek, platzieren uns nur zwei Klassenzimmer von Bens Schließfach entfernt und warten darauf, dass es klingelt.
    Und wir warten darauf, ihn noch einmal zu sehen.
    Nicht dass jemand glaubt, ich wäre eine verrückte Masochistin, die ganz wild auf die Vorstellung ist, sich mit einem Straftäter einzulassen. Aber ich habe das Bedürfnis, mich bei ihm zu bedanken - ihm in die Augen zu
schauen und zu sagen, dass ich es zu schätzen weiß, dass er mir das Leben gerettet hat. Dann kann ich gehen.
    Alles erledigt.
    »Das ist so total mutig von dir«, sagt Kimmie und benutzt ihren Bleistift als Haarnadel. »Ich meine, es könnte ja ehrlich gesagt sein, dass er noch nicht mal derselbe Typ ist.««
    »Er ist es«, sage ich und beobachte den großen Zeiger auf der riesigen Uhr, die im Flur hängt. Nur noch zwei Minuten.
    »Du bist also überzeugt, dass der Junge, der angeblich seine Freundin umgebracht hat, derselbe ist, der dir das Leben gerettet hat?«
    »Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass du diese ganzen Gerüchte glaubst, oder? Wir kennen doch sowieso noch keine Tatsachen.«
    »Ach was, Tatsachen.« Sie verdreht die Augen. »Er hat dir also das Leben gerettet und deinen Bauch berührt. So what? Jede Menge Leute haben irgendwelche beliebigen Körperteile von mir berührt, und deswegen mache ich noch lange nicht so eine große Sache daraus.«
    »Als ich zuletzt nachgeschaut habe, war es noch eine große Sache, jemandem das Leben zu retten. Außerdem geht es nicht darum, dass er mich berührt hat, sondern wie er mich berührt hat.«
    »Na dann.« Kimmie gähnt. »Du hast eine Gänsehaut gekriegt, und dein Herz hat Purzelbäume geschlagen. Wie konnte ich das nur vergessen?«
    Anstatt zu versuchen, ihr verständlich zu machen, was sie ganz offensichtlich nicht verstehen will, schaue ich
weiter auf die Uhr, sehe den großen Zeiger näher an die Zwölf rücken und frage mich, ob ich mich wirklich traue, mit ihm zu reden.
    Ich schließe die Augen, warte auf die Glocke, und zwei Sekunden später dröhnt sie los - so laut, dass ich die Vibrationen im Bauch spüren kann.
    Der Flur füllt sich mit Schülern, die an uns vorbeidrängen und wahrscheinlich genervt sind, weil wir nur rumstehen und den Verkehr aufhalten.
    Aber dann sehe ich ihn.
    Er bleibt ein bisschen zurück und steht noch ein wenig in der Tür zu Señora Lynchs Spanisch-Klassenzimmer und schaut der vorbeiziehenden Herde zu.
    »Was macht er da?«, fragt Kimmie.
    Ich schüttele den Kopf und lasse ihn nicht aus den Augen, aber er sieht nicht einmal in meine Richtung. Nicht ein einziges Mal.
    Es dauert einige Minuten, bis das Gedränge im Flur sich ein wenig lichtet. Und dann geht er endlich zu seinem Schließfach.
    Es ist so offensichtlich, dass die anderen ihn bemerken. Sobald sie ihn sehen, glotzen sie ihn an und wechseln ungeheuer vielsagende Blicke, als wäre das hier das Größte, was unsere Kleinstadtwelt jemals erschüttern könnte.
    »Hier ist deine Chance«, schubst Kimmie mich an. »Jetzt oder nie.«
    »Jetzt«, sage ich mit zittriger Stimme.
    Ich gehe auf ihn zu, und mein Gesicht fühlt sich ganz heiß an. Ben reißt ein Blatt Papier von seiner Schließfachtür,
wirft es auf den Boden und stellt dann seine Zahlenschlosskombination ein. Er achtet überhaupt nicht darauf, dass ich mittlerweile direkt neben ihm stehe.
    »Ben?«, frage ich und spüre, wie mein Puls rast. »Kann ich kurz mit dir reden?«
    Er ignoriert mich noch immer.
    »Ben?«, wiederhole ich, diesmal ein wenig lauter.
    Schließlich schaut er hinter seiner Schließfachtür hervor. »Kann ich dir helfen?«
    »Erinnerst du dich an mich?«
    Er schüttelt den Kopf und wendet den Blick ab - zurück in sein Schließfach, um nach etwas zu suchen.
    »Vor drei Monaten«, fahre ich fort und versuche, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Auf dem Parkplatz, hinter der Schule... ein Auto kam auf mich zu, und du hast mich aus dem Weg geschubst.«
    »Sorry«, murmelt er.
    »Du hast mir das Leben gerettet«, flüstere ich. Dabei fällt mein Blick auf das Papier, das er auf den Boden geschmissen hat - ein Blatt, das aus einem Heft herausgerissen und auf das das Wort Mörder geschmiert worden ist.
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