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Tödliches Abseits (German Edition)

Tödliches Abseits (German Edition)

Titel: Tödliches Abseits (German Edition)
Autoren: Jan Zweyer
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der Umstehenden und die lauten Gesänge, die ihn zuerst erschreckten, später dann aufwühlten, ließen ihn nie mehr los. Vater vermittelte ihm inmitten der Menschenmassen ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Nähe, ja auch Wärme und Geborgenheit, das er sonst bei ihm niemals gespürt hatte.
    Vater konnte sich auf dem Fußballplatz mitreißen lassen. Außerhalb des Platzes war er streng und abweisend, manchmal sogar hart. Er arbeitete als Bergmann im Schichtdienst auf Hugo in Gelsenkirchen-Buer, bis er mit fünfzig in die Anpassung musste. Von seiner Rente hatte er nicht mehr viel gehabt. Nur drei Jahre. Dann kam die tödliche Silikose.
    Sie waren drei Geschwister zu Hause gewesen. Er war der Älteste. Maria, seine zwei Jahre jüngere Schwester, hatte schon vor zehn Jahren geheiratet und war mit ihrem Mann nach Süddeutschland gezogen, der Arbeit wegen. Ostern, Weihnachten und zu den Geburtstagen erhielten sie briefliche Glückwünsche, manchmal rief sie auch an. Mutter und Vater waren vor fünf Jahren einmal in Bayern bei Maria und ihrem Mann zu Besuch gewesen, ihr erster und einziger Urlaub in mehr als dreißig Ehejahren.
    An Heinz, den jüngsten, hatte er kaum noch Erinnerungen. Er war zwei, als Heinz geboren wurde, und neun, als er starb. Sie bewohnten damals in Erle an der viel befahrenen Cranger Straße eine kleine Wohnung in einem Zechenhaus. Heinz spielte an diesem verhängnisvollen Nachmittag draußen mit anderen Kindern im Hof. Leider hielten sie sich nicht an die Ermahnung ihrer Eltern. Zwei Mülltonnen, die auf ihre Entleerung warteten, bildeten das Tor und Heinz stand darin. Den flach geschossenen Ball seines besten Freundes Karl konnte er nicht abwehren. Tor. Und ohne auf den Verkehr zu achten, lief Heinz auf die Straße, um den Lederball für das Weiterspiel zu sichern. Mutter hatte deutlich das Quietschen der Bremsen des schweren Lastkraftwagens gehört. Wie gesagt, an Heinz konnte er sich kaum erinnern.
    Nach dem Tod seines Bruders wurde Mutter noch stiller als vorher und Vater immer mürrischer. Er war aufbrausend und schlug ihn und seine Schwester schon bei der kleinsten Ungehorsamkeit mit einem eigens dafür an der Küchentür hängenden Ledergürtel. Er hatte manchmal Angst vor seinem Vater und war froh, wenn dieser auf Schicht war. Nur alle vierzehn Tage, samstagnachmittags, wenn Schalke spielte, war er gerne mit seinem Vater zusammen. Erst auf der Glückaufkampfbahn, nach der Weltmeisterschaft 1974 dann im Parkstadion.
    Ihr Fußballnachmittag begann an diesen Tagen schon gegen zwölf Uhr mittags, wenn sich Vater in seiner Stammkneipe mit Freunden und Arbeitskollegen traf. Er durfte dann, um die Fachsimpeleien der Erwachsenen nicht zu stören, am Flipper spielen; ein Vergnügen, das ihm ansonsten strengstens verboten war. Vater trank während der Unterhaltung mit seinen Kumpels drei, vier Glas Export. Vater trank nie Pils, immer nur Export. Und etwas angewärmt, nicht eiskalt. Dazu rauchte er zwei, drei Zigaretten. Nicht mehr. Und er, der Sohn, bekam Bluna, später, als er größer war, auch Coca-Cola. Und mit fünfzehn lud ihn Vater ein, mit einem Bier neben ihm am Tresen zu stehen. Er würde nie vergessen, wie stolz ihn das machte; so stolz, dass er einige Wochen später fast nicht mehr an das Spiel dachte, nur noch daran, dass ihm Vater ein Bier ausgegeben hatte und er neben den Erwachsenen hatte stehen dürfen.
    Nach drei Stunden in der Kneipe gingen sie gemeinsam die knapp zwei Kilometer bis zum Parkstadion.
    Vater und er standen immer in der Nordkurve, da, wo sich der echte Schalker Fanblock befand. Nicht direkt mitten in der Nordkurve, eher etwas am Rand, aber doch zwischen den wirklichen Fans. Er hatte bei diesen Anlässen schon als Kleinkind Schalker Trikots getragen, die er auch heute noch wie Reliquien in seinem Schrank aufbewahrte, dazu den blau-weißen Schal und eine Fankappe. Sein Vater hatte als Beweis seiner Sympathie nur eine Fahne dabei, die ihm als Kind riesig vorgekommen war. Lediglich im Winter, wenn es sehr kalt war, wickelte sich Vater einen Schal in den Vereinsfarben um den Hals, nur dann.
    In der Halbzeit hatte Vater ihm fast immer eine Bockwurst mit Brot und Senf gekauft, bei einem Mann mit einem mobilen Verkaufsstand. Dieser Mann sollte später Präsident von Schalke 04 und noch später, nach seiner Abwahl, mehr oder weniger erfolgreicher Kneipenbesitzer auf Gran Canaria werden. Heute würde ihm der Wurstverkäufer vermutlich nicht so freundlich begegnen wie
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