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Toedlicher Staub

Toedlicher Staub

Titel: Toedlicher Staub
Autoren: Massimo Carlotto
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an den drei letzten Tagen werden die Hähnchen gerupft, bis sie alles verloren haben. Darauf fallen alle rein. Auch diejenigen, die mit dem einzigen Ziel an Bord kommen, irgendwann an den Pokertisch zu gelangen, denn das Spiel ist in den Casinos Europas verpönt und nur noch in internationalen Gewässern als Glücksspiel zu haben. Sie verbringen die Tage in der Kabine, in der sie sich sogar das Essen servieren lassen, und abends stellen sie sich im dunklen Anzug an die Kasse, um ihr Geld in Chips umzutauschen. Auf Schiffen kann man kein Geld leihen und auch keinen Versuch starten, das Glück zu erzwingen. Der Sicherheitsdienst ist äußerst effizient.
    Dem rumänischen Ex-Polizisten, der den Sicherheitsdienst an Bord der Fähre von Pierre-Didier leitete, stand es groß und deutlich auf die Stirn geschrieben: Versucht es gar nicht erst. Auch das übrige Personal war nicht gerade wegen seiner Freundlichkeit beliebt. Sie waren höflich, verhehlten aber nicht, dass sie nur hier waren, um die Hähnchen zu rupfen. Am Ende einer jeden Kreuzfahrt gehen um die dreitausendachthundert Passagiere von Bord, ein paar Stunden später werden die Anker gelichtet, und das Schiff ist wieder voll belegt. Die Hähnchen unterteilen sich in verschiedene Kategorien und gesellschaftliche Klassen, alle aber tragen unterschiedslos dazu bei, Charterer und Reeder reich zu machen.
    Monsieur Vilrouge blieb bis gegen neunzehn Uhr in seiner Kabine. Daraufhin begab er sich zum Abendessen und danach sofort zum Glücksspiel. Er teilte sich einen Tisch mit einem anderen Einzelreisenden, einem Ingenieur aus Brindisi, der in Bari zugestiegen war. Kaum dass seine Frau ihm eröffnet hatte, sie werde jetzt mit anwaltlicher Hilfe die Scheidung einreichen, war er ins Reisebüro gegangen und hatte ein Billett für das nächste Schiff gekauft. Er war nicht unsympathisch, redete aber ununterbrochen. An den ersten Abenden hatte er von Antipasto bis Dessert von seiner Frau erzählt. Er war todsicher, dass er ohne sie nicht würde leben können.
    »Lieben Sie sie derart, dass Sie es für ganz ausgeschlossen halten, irgendwann im Leben eine andere Frau zu finden?«, hatte Didier ihn eines Abends gefragt, als es ihm reichte. »Wenn zum Beispiel heute Abend eine Hübsche ankommt und sich in Sie verliebt, tun Sie so, als würden Sie nichts bemerken, jammern alle Tage Ihrer Frau hinterher und holen sich in Gedanken an die verflossene Liebe einen runter?«
    »Was erlauben Sie sich …«, hatte der andere gestottert.
    »Antworten Sie!«
    Das hatte er nicht getan, sondern Didier nur angestarrt und gesagt: »Man merkt, dass Sie erst fünfunddreißig sind.«
    »Neununddreißig!«, hatte er ihn korrigiert.
    Ab jenem Abend informierte ihn der Ingenieur zwar nicht mehr über seine intimen Zustände, monologisierte aber dennoch endlos weiter. An Themen fehlte es ihm nie, und sein Lieblingssujet war die Kreuzfahrt als solche.
    »Wissen Sie, warum es derart modern ist, seine Ferien auf diesen Hundertzwölftausend-Tonnen-Monstern zu verbringen?«
    Der Deserteur schüttelte den Kopf, damit er weiterreden konnte.
    »Weil die Leute sich um nichts kümmern müssen. Sie brauchen nur an Bord zu gehen, für alles andere sorgt ›das Schiff‹.«
    »Das kann man in einem Hotel doch auch haben«, hatte er entgegnet, um auch mal etwas zu sagen.
    Fröhlich kicherte der Ingenieur, weil er ihn bei einem Irrtum ertappt hatte. »Falsch. ›Das Schiff‹ kümmert sich in der gesamten Zeit, während der Passagier an Bord ist, um dessen Sicherheit und Gesundheit.«
    »Daran hatte ich tatsächlich nicht gedacht«, sagte er in der Hoffnung, der Ingenieur könnte das Thema wechseln.
    Der kam aber erst richtig in Fahrt. »Wissen Sie, was das bedeutet? Das ist der Tod des Reisens als Abenteuer, als Entdeckung, als Chance, die Realitäten, die man bereist, zu verstehen. Hier ist alles vorgefertigt …«
    Nazzari interessierte das herzlich wenig. Er spielte die Rolle des Spielers, um nicht aufzufallen, denn wer keine Neugier erregen will, fügt sich am besten in eine vorhandene Typologie ein. So hatten es ihm die Leute erklärt, die ihn an Bord gebracht hatten; er wäre von sich aus nie im Leben auf die Idee gekommen.
    Die Nacht, in der er auf Sardinien aus diesem Haus geflohen war und Nina den beiden Killern überlassen hatte, war keine zwei Monate her. Er war nach Korsika gelangt, doch statt nach Marseille weiterzureisen, fuhr er nach Calvi und klopfte bei seinem alten Geschäftspartner an, dem Genueser
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