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Töchter auf Zeit

Töchter auf Zeit

Titel: Töchter auf Zeit
Autoren: Jennifer Handford
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türkisfarbene Tunika. Offensichtlich brachte er ihr das Einmaleins bei, denn vor ihm lagen Lernkarten. Sie schien sich zu konzentrieren – ihr Mund war leicht zusammengekniffen –, aber ihre Augen strahlten. Ich löste vorsichtig die klebrige Schutzfolie und pulte das Foto heraus, das einen viereckigen Abdruck im Album hinterließ.
Claire – mit neun
stand auf der Rückseite. Ein glückliches Mädchen, das sich in der Aufmerksamkeit ihres Vaters sonnte.
    Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass mir damals, als wir beide an dem Tisch saßen, der Gedanke durch den Kopf schoss: Er ist kein schlechter Mensch. Weshalb ist Claire so gemein zu ihm?
    Jetzt warf ich einen erneuten Blick in die Richtung des Hauses meines Vaters und fragte mich, ob er wohl dasselbe über mich dachte wie ich über ihn. So viele Jahre waren seitdem vergangen, und ich fühlte mich noch immer so verdammt einsam. Und das, obwohl Tim und seine liebevolle Familie und natürlich Claire und ihre Familie in derselben Stadt wohnten. Das sollte doch genügen. Aber das genügte mir eben nicht. Ich vermisste die Familie aus meinen Kindertagen. Ich wollte mich an sie erinnern. Auch wenn es Claire in all den Jahren gelungen war, fast jede Leere in mir zu stopfen, hatte sie eine Sache nicht geschafft:Sie konnte mit mir nicht über Mom und Dad reden. Das war eben ihre Art, ich wusste das. Sie hielt nicht viel davon, über Dinge zu reden. Sie trug ihr Herz nicht auf der Zunge. Sie wollte unter keinen Umständen ohne ihren Schutzpanzer dastehen. Und damit war nur noch Larry übrig, der sich vielleicht gemeinsam mit mir an die Vergangenheit erinnern wollte. Denn Claire und ich hatten ganz unterschiedliche Erinnerungen an unseren Vater. Ich hatte wesentlich mehr schöne Erinnerungen als sie. Doch wenn ich versuchen würde, den Kontakt zu unserem Vater wieder aufzunehmen, würde Claire mir das wohl nie verzeihen.
    Ich warf einen letzten Blick auf das Haus meines Vaters und fragte mich, ob er vielleicht über telepathische Fähigkeiten verfügte, die ihn meinen Schmerz fühlen ließen, fragte mich, ob er überhaupt noch an Mom dachte, fragte mich, ob er sie auch nur annähernd so sehr vermisste, wie ich es tat, fragte mich, ob das Loch in seinem Herzen so groß war wie meines.
    Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es an der Zeit war, zu Target zu fahren. Ziemlich abgeschottet in der hintersten Ecke des Einkaufszentrums befand sich Gymboree, ein Spiel- und Lernparadies für Kinder. Der Förderkurs meiner Nichte Maura hatte gerade erst begonnen. Ich sprang noch schnell bei Starbucks vorbei und nahm einen Caffè Latte mit, machte, dass ich weiterkam, öffnete dann behutsam die Tür zu Gymboree und setzte mich neben Claire.
    Sie sah erst mich an und dann die Handvoll kleiner Mädchen, die direkt vor meinen Augen vergnügt durcheinanderpurzelten. Sie verzog ihr Gesicht, als würde sie sich fragen, ob das wirklich so eine gute Idee wäre, dass ich hier wäre – eine Süchtige vor dem offenen Giftschrank.
    »Na, was hast du heute den ganzen Tag gemacht?«, fragte sie.
    »Nicht viel«, sagte ich, und meine Stimme klang merkwürdig gepresst. Sicherlich nicht am Haus unseres Vaters vorbeigefahren.
    Die wartenden Mütter verbreiteten eine ziemliche Hektik. Ehemalige Rechtsanwältinnen und Geschäftsführerinnen, die sich für einen Vollzeitjob als Mutter entschieden hatten, drängten sich in den Gängen zu den Gymnastik- und Tanzkursen und verkauften Schokoriegel und Geschenkpapier. Eine von ihnen verteilte Broschüren. »Das ist für unsere Schule«, sagte sie steif. »Wir wären Ihnen für Ihre Unterstützung sehr dankbar.«
    Ich nahm ihr eine Broschüre ab, aber nachdem sie weg war, flüsterte ich Claire zu: »Ich finde diese Tussis einfach zum Kotzen. Wie sie ihre Mutterschaft zur Schau stellen! Als hätten sie eine Medaille dafür verdient. Schaut alle mal her! Hier steht die Mommy, die zu jedem Opfer bereit ist. Ich habe sogar meine tolle Karriere dafür aufgegeben und sammle jetzt Spenden für den Elternbeirat.«
    »Ich weiß«, sagte Claire. »Sie übertreiben es ein bisschen.« Claire war anders. Sie hatte sich reibungslos von einer Topanlageberaterin zur Mutter gewandelt und nicht ein einziges Mal den guten alten Zeiten hinterhergejammert. Aber so war Claire nun mal. Claire schlüpfte in die Rolle einer Mutter ebenso leicht wie in jede andere Rolle. Und sie stand ihr ebenso gut wie ihre Jeans in Größe 36. Bei mir war das anders, mir passte nichts auf
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