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Töchter auf Zeit

Töchter auf Zeit

Titel: Töchter auf Zeit
Autoren: Jennifer Handford
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stehen und fasste mir ins Gesicht: Pickel und Falten? Nicht zu fassen! Es gehörte verboten, mit 35 Jahren die Probleme der Pubertät ertragen zu müssen und gleichzeitig mit denen des Alterns gestraft zu werden. Kritisch musterte ich mein Spiegelbild: graues Sweatshirt, Flanell-Schlafanzughose, die Haare verfilzt und stumpf wie feuchtes Pudelfell. An der Wand neben der Küchentür hing ebenfalls ein Spiegel, in den ich normalerweise einen prüfenden Blick warf, bevor ich aus dem Haus ging. Ich nahm ihn sogleich ab und verbannte ihn in eine Schublade.
    Ich ging in die Küche, schlüpfte in Tims Kochpantoffeln und bohrte meine Zehen in die weiche Wolle. Unsere Küche war klein, kaum geräumiger als der Kühlraum unseres gemeinsamen Restaurants, dem Harvest. Für Tim war das Harvest eine Bühne, auf der er mittlerweile fast wie ein Star gefeiert wurde, während ich mich vor Kurzem aus dem Geschäft zurückgezogen hatte, nachdem mich meine Unfruchtbarkeit in eine tiefe Depression gestürzt hatte und ich nicht mehr in der Lage war zu arbeiten. Ich fühlte mich geplättet wie ein zusammengefallenes Soufflé.
    Die Geräusche und die gedämpfte Stimme von Bobby Flay, die aufgrund des Holzbodens zu mir in die Küche drangen, sagten mir, dass Tim im Fitnessraum in die Pedale des Hometrainers trat. Während Tim seine 30 Kilometer hinter sich brachte, zappte er üblicherweise zwischen dem Food Network und CNBC hin und her. Ich warf einen Blick aus dem Fenster über dem Spülbecken. Der Frühling präsentierte sich in all seiner Pracht: Rosafarbene und rote Tulpen hoben sich von dem frischen Grün des Rasens ab, und an den Ästen der Bäume entfalteten sichdie ersten zarten Blätter. Wohin ich auch blickte, stach mir die Fruchtbarkeit der Natur ins Auge. Ich hielt den Schwamm unter den Wasserhahn, wrang ihn aus und wischte die Arbeitsfläche ab. Der feinen Mehlschicht nach zu schließen, hatte Tim etwas gebacken.
    Unser gemütliches, uriges Haus im Cape-Cod-Landhausstil war eines der wenigen kleinen, die sich in unserem Wohngebiet nordöstlich von Washington, D. C., unter die großen, protzigen Anwesen unserer Nachbarn gemischt hatten. Es war auch eines der wenigen Häuser, in denen tagsüber jemand zu Hause war. Die meisten unserer Nachbarn waren Workaholics: Anwälte, Lobbyisten, Stadträte, Regierungsbeamte und Ärzte, die in einem der zahlreichen Krankenhäuser arbeiteten. Sie alle gingen früh am Morgen aus dem Haus und kehrten oft erst spät am Abend in ihre märchenschlossähnlichen Paläste oder Prachtbauten im Kolonial- oder Tudorstil zurück. Und sie zeugten ein Kind nach dem anderen, wobei sie die Erziehung ihrer Sprösslinge einer Reihe von Kindermädchen überließen.
    Claire hatte sich in ihrer direkten Art schon des Öfteren ausgemalt, wie wir mit unserer protzigen Nachbarschaft »gleichziehen« könnten, sobald unser Restaurant genügend abwarf. Aber ich fühlte mich in unserem 140-Quadratmeter-Häuschen sehr wohl, und Tim war viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als sich darüber Gedanken zu machen. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war noch mehr Platz, um ziellos herumzutigern.
    Claire hatte eine Tochter, die kleine, dunkelhaarige Maura. Meine drei Jahre alte Nichte war ein anhängliches, liebes und aufgewecktes Mädchen. Folter für eine anscheinend unfruchtbare Frau wie mich. Wenn ich ihre zarte Kinderhaut fühlte und mit feuchten Kleinmädchenküssen überschüttet wurde, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Claire gehörte zu der Sorte guter, fürsorglicher Mütter, die stetsein sauberes Taschentuch, ein Pflaster und eine Packung Goldfischchen-Kekse parat hatten. Sie hatte ihre mütterlichen Fertigkeiten über zwei Jahrzehnte perfektioniert, da ihr im zarten Alter von 20 Jahren die Verantwortung aufgebürdet wurde, für mich, damals ein widerspenstiger, 14 Jahre alter Teenager, zu sorgen, als unsere Mutter starb.
    Ich goss mir eine Tasse Kaffee ein und nahm drei Säureblocker aus der Schachtel. Das mit künstlichem Orangengeschmack verfeinerte Magnesium schmeckte mit einem Schluck Kaffee – eine französische Röstung – ganz gut und erinnerte mich sogar an die Haselnuss-Grand-Marnier-Torte, die ich früher häufig gemacht hatte. Tims momentane Konditormeisterin Margot buk sie noch gelegentlich.
    Ich tappte durch den Flur zum Kinderzimmer. Das Kinderzimmer ohne Kind. Wir hatten es schon vor Jahren gestrichen und tapeziert, als ich in meinem naiven Optimismus noch davon überzeugt
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