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Todesrosen

Todesrosen

Titel: Todesrosen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Frieden.
    Sie sah die Leiche nicht sofort. Nach kurzer Zeit, kaum mehr als ein, zwei Minuten, kam es ihr so vor, als höre sie seitlich in einiger Entfernung ein Geräusch, und sie warf einen raschen Blick in die Richtung. Sie legte dem Mann die Hand auf den Mund, um sein Stöhnen zu unterdrücken, saß bewegungslos auf ihm und lauschte. Sie starrte angestrengt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und glaubte, jemanden zum Friedhofstor wegrennen zu sehen. Von der Friedhofsmauer glitt ihr Blick nach rechts über die Gräber und blieb an etwas Weißem hängen, einem weißen Fleck, der sich von der Umgebung abhob und der halb verdeckt zu sein schien.
    Sie rollte sich von ihm herunter und schlüpfte wieder in ihren Slip. Er zog den Reißverschluss hoch und stand auf.
    »Was ist los?«, fragte er flüsternd.
    »Da ist jemand«, sagte sie leise. Sie klang ängstlich. »Lass uns gehen.«
    Während sie über den Friedhof hasteten, behielt sie das Weiße im Auge und machte den Mann darauf aufmerksam. Sie überlegten, um was es sich wohl handeln könnte und ob sie hingehen und sich das näher ansehen oder einfach wie geplant zu ihr nach Hause gehen sollten.
    »Lass uns das machen«, sagte er.
    »Was? Uns das ansehen?«
    »Nein, lass uns zu dir nach Hause gehen.«
    »Kann es sein, dass da …? Liegt da vielleicht ein Mensch? Kann das sein?«
    »Ich kann nichts erkennen.«
    Ihre Neugier war jedoch geweckt. Später wünschte sie, sie hätte sich da herausgehalten, doch sie konnte nicht anders, sie musste einfach nachsehen, was da lag. Vielleicht war da ja jemand, der Hilfe brauchte. Sie ging auf das Weiße zu, und er folgte ihr. Beim Näherkommen nahm es deutlichere Konturen an, und ihr stockte der Atem, als sie sah, um was es sich handelte.
    »Das ist ein Mädchen«, sagte sie wie zu sich selber. »Ein nacktes junges Mädchen.«
    Sie traten näher heran und standen nun ganz dicht vor der Leiche.
    »Ist sie tot?«, fragte er. »Hallo«, rief er, »hallo! Fräulein, hallo!«
    Für sie klang es so, als würde er nach einer Kellnerin rufen. Das hatte er an diesem Abend auch im Restaurant schon einige Male gemacht. Ihr war das unangenehm gewesen, weil es sich in ihren Augen um nichts weiter als um Imponiergehabe handelte. Sie hatte es aber geflissentlich überhört, doch jetzt störte es sie total.
    Das Mädchen war ganz offensichtlich tot, das sah und spürte sie. Sie trat ganz dicht heran, bückte sich und blickte der Toten ins Gesicht. Dick aufgetragener, dunkelblauer Lidschatten unter schwarzen Augenbrauen, sehr viel Rouge auf den Wangen, flammend roter Lippenstift. Das Mädchen war vielleicht knapp über zwanzig. Die Augen waren geschlossen.
    Alles an ihr wirkte tot. Der schmale, kreidebleiche Körper lag leicht gekrümmt halb auf der Seite, mit dem Rücken ihnen zugewandt. Die Arme, zart wie Blumenstängel, lagen neben dem Kopf. Man hätte ihre Rippenknochen unter der gedehnten Haut zählen können. Das schwarze, schulterlange Haar war wirr und schmutzig. Sie hatte lange, dünne Beine, und auf einer Pobacke befand sich etwas Rotes, eine Tätowierung, die wie der Buchstabe J aussah.
    Sie standen eine Weile wortlos neben der Leiche. Das arme Mädchen, dachte sie. Aus dem Kaffee wird heute Abend also nichts, dachte er.
    »Weißt du, wer das ist?«
    »Ich? Wieso denn? Ich kenn die doch überhaupt nicht!«, antwortete er verwundert. »Wie kommst du auf die Idee?«
    »Ich meine nicht das Mädchen, sondern ihn«, sagte sie und deutete auf die Grabstele. »Jón Sigurðsson. Islands Ehre, Schwert und Schild. Präsident Jón.«
    Das Mädchen lag auf dem Grab des isländischen Freiheitskämpfers und Wegbereiters der Unabhängigkeit. Die Grabstätte war umzäunt mit einem niedrigen kleinen Gitter, und das Grabmal bestand aus einer drei Meter hohen Stele aus bräunlichem Marmor. Mitten darauf war eine kupferne runde Platte mit Jón Sigurðsson im Profil. Ihr kam es so vor, als schiele er verächtlich zu ihnen herunter. Die Friedhofsverwaltung war für die Grabpflege und die Blumenbepflanzung zuständig, und so kurz nach dem Nationalfeiertag war der große Kranz, den der isländische Staatspräsident jedes Jahr am 17. Juni dort niederlegte, noch nicht entfernt worden. Das Mädchen lag nackt und weiß in einem Blumenmeer, das zu welken begonnen hatte. Ein leichter Geruch von Moder lag in der Luft.
    »Hast du dein Handy dabei?«, fragte sie.
    »Nein, ich hab es heute Abend gar nicht mitgenommen«, entgegnete er.
    »Ich glaube,
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