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Todesmelodie

Todesmelodie

Titel: Todesmelodie
Autoren: Christopher Pike
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immer, möglichst zuversichtlich zu wirken. Jetzt drehte Sharon sich um und suchte sie in der Menge.
    »Es geht ihr gut«, versicherte John seiner Mandantin. »Ich habe ihr gesagt, daß wir gewinnen.«
    »Und wenn wir verlieren?«
    »Dann gewinne ich eben meinen nächsten Prozeß!« Er grinste und tätschelte ihr Knie. »War doch hur Spaß, Sharon!«
    »Ach ja?«
    »Du mußt lernen, nicht alles so schrecklich ernst zu nehmen!«
    Dasselbe hatte sie Ann auch immer geraten. Sie selbst war immer die sorglosere von ihnen beiden gewesen – damals, in dem anderen Leben. Ob Ann ihr jetzt die grüblerische Seite ihres Wesens vererbt hatte, damit sie sich damit herumschlug? Ann hatte ganz genau gewußt was sie tat, als sie diese Art zu sterben gewählt hatte.
    Es war kein Unfall gewesen, das war Sharon während ihrer zweiten Woche im Gefängnis klargeworden. Ann mußte sich bewußt gewesen sein, was sie Sharon damit antat.
    Aber warum? Es gab keine leichte Antwort auf diese Frage, und auch keine schwierigere – es gab einfach keine Erklärung.
    »Ich kann das alles aber nicht auf die leichte Schulter nehmen«, meinte Sharon seufzend.
    »Warum denn nicht? Ich glaube wirklich, daß wir gewinnen!«
    »Selbst wenn wir gewinnen – meine beste Freundin ist trotzdem tot!«
    John machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die war doch sowieso verrückt!«
    Sharon packte sein Handgelenk und preßte es fest auf den harten Holztisch. Vielleicht hatte Ann sie wirklich gehaßt, aber trotzdem konnte sie nicht das gleiche für sie empfinden. »Wenn es unbedingt sein muß, können Sie das der Jury erzählen«, sagte sie leise, »aber niemals mir. Es stimmt nämlich nicht.«
    Er hielt ihrem Blick stand – es war nicht leicht, John einzuschüchtern.
    »Wenn du meinst…«, gab er zurück.
    Endlich betrat Richter Franklin Warner den Saal, und alle Anwesenden standen auf. Warner hatte ihre Jury nicht selbst ausgewählt, denn er war an dem Tag krank gewesen, als sie zusammengestellt worden war. Jetzt sah er nicht schlecht aus, höchstens ein wenig müde. Er war ein mittelgroßer, dickbäuchiger Mann. Dichte braune Locken bedeckten die Seiten seines runden Schädels, dessen obere Hälfte völlig kahl war und glänzte. Richter Warner trug eine schwarze Robe, die Sharon an die Tatsache erinnerte, daß es für Ann keine Beerdigung gegeben hatte, weil nichts da war, das man hätte beerdigen können.
    Die Geschworenen verfolgten den Einzug des Richters mit respektvollen Blicken. Sharon ertappte sich dabei, wie sie voller Panik zu ihnen hinübersah. John hatte ihr geraten, nur ab und zu mal einen Blick hinüberzuwerfen. »Laß sie deine Augen sehen und begreifen, daß du ein Mensch bist, kein Fall«, hatte er gesagt. Das Problem war, daß ihr umgekehrt die Geschworenen nicht wie menschliche Wesen vorkamen. Sie schienen aus zwölf Köpfen und einem Mund zu bestehen, der nur zwei Dinge sagen konnte: ›Schuldig‹ oder ›nicht schuldig‹. Sie saßen links vom Richterstuhl, Sharon auf der rechten Seite.
    Richter Warner setzte sich, und alle Anwesenden folgten seinem Beispiel.
    Der Prozeß wurde offiziell mit den Worten eröffnet: »Das Volk gegen Sharon McKay in der Sache Ann Rice.«
    Die Staatsanwältin stand auf, um ihr Eingangsplädoyer zu halten.
    Sie trug ein graues Kostüm und nicht die Spur von Makeup. Jetzt wandte sie sich um und näherte sich der Geschworenenbank.
    John hatte Sharon erzählt, Margaret Hanover sei eine Meisterin der Argumentation, versage aber völlig, wenn es darum ginge, die Ängste eines Geschworenen zu verstehen. John war davon überzeugt, daß die meisten Jurymitglieder nicht soviel Angst davor hatten, ein falsches Urteil zu fällen, wie davor, die andern Geschworenen durch eine abweichende Meinung gegen sich aufzubringen. Deshalb versuchte er, diese Angst zu verstärken und ihnen zu suggerieren, sie seien eine einzige große Familie. Außerdem nutzte er dieses Gefühl, indem er ihnen einredete, die ›Familie‹ könne das Urteil nur unbeschadet überstehen, indem sie das Sicherste tat und seinen Angeklagten freisprach.
    »Sharon McKay ist achtzehn Jahre alt«, begann die Staatsanwältin und blieb an der Seite der Geschworenenbank stehen, die dem Richter und dem Gerichtsreporter näher war. Margaret Hanover bedachte die Auswahl von Bürgern mit einem strengen Blick. »Sie ist rechtlich eine Erwachsene und muß hier vor Gericht auch so behandelt werden. Ihre jugendliche und unschuldige Erscheinung wie ihre außerordentlichen
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