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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch
Autoren: Stephen King
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Garraty spürte knapp vor seiner Nase einen scharfen Luftzug. In der Menge schrie jemand vor Schmerzen auf. Dann glitt das Gewehr aus Parkers Händen. Er drehte sich in beinahe militärischer Haltung um seine Achse und fiel auf die Straße, wo er auf der Seite liegenblieb und wie ein überfahrener, tödlich verletzter Hund keuchte. Seine Augen brachen. Er öffnete den Mund und kämpfte im Blutschwall um die Silben. »Ihr. Ba. Ba. Bas. Ba.« Er starb mit einem bösen Blick auf sie, während sie an ihm vorbeigingen.
    »Was ist passiert?« rief Garraty laut, ohne jemand bestimmten zu fragen. »Was ist mit ihm passiert?«
    »Er hat sich angeschlichen«, antwortete McVries. »Das ist passiert. Aber er muß gewußt haben, daß er es nicht schaffen würde. Er hat sich ganz leise von hinten angeschlichen und sie beim Schlafen erwischt. Sie haben nur eine Sekunde nicht aufgepaßt.« McVries Stimme wurde heiser. »Er wollte, daß wir alle zu ihm hinaufkommen, Garraty. Und ich glaube, wir hätten es schaffen können.«
    »Wovon redest du?« fragte Garraty und bekam fürchterliche Angst.
    »Das weißt du nicht?« fragte McVries. »Das weißt du nicht?«
    »Vergiß es. Denk nicht mehr dran.«
    McVries ließ ihn allein. Garraty bekam plötzlich einen Anfall von Schüttelfrost. Er konnte ihn nicht unterdrücken. Er wußte nicht, was McVries gemeint hatte. Er wollte es gar nicht wissen, wollte nicht einmal darüber nachdenken.
    Der Marsch ging weiter.
    Um neun hatte der Regen aufgehört, aber es waren keine Sterne am Himmel zu sehen. Niemand war seit Parker ausgeschieden, aber Abraham hatte ganz leise zu stöhnen angefangen. Es war jetzt sehr kalt, aber niemand bot ihm etwas zum Überziehen an. Garraty versuchte, das als eine Art Gerechtigkeit zu betrachten, aber es machte ihn nur ganz krank. Auch 4ie Schmerzen in ihm verwandelten sich langsam in eine große Krankheit, ein Gefühl des Verrottens, das sich wie grüner Eiter in den Höhlungen seines Körpers ausbreitete. Sein Nahrungsgürtel war noch fast unangetastet, aber er konnte nicht mehr als eine kleine Tube Thunfischkonzentrat verzehren, ohne sich sofort übergeben zu müssen.
    Baker, Abraham, McVries. Sein Freundeskreis war auf diese drei zusammengeschrumpft. Und Stebbins, wenn er zu den Freunden dazuzählte. Er war eher ein Bekannter. Oder ein Halbgott. Oder Teufel. Was auch immer. Er fragte sich, wer von ihnen am nächsten Morgen noch dabei sein würde, und ob er dann noch lebte, um es feststellen zu können.
    Während er über diese Dinge nachgrübelte, stieß er im Dunkeln plötzlich mit Baker zusammen. In Bakers Hand klimperte etwas.
    »Was machst du da?« fragte Garraty ihn.
    »Häh?« Baker blickte verwirrt hoch.
    »Was du da machst«, wiederholte Garraty geduldig.
    »Ich zähle mein Kleingeld.«
    »Wieviel hast du?«
    Baker schüttelte die Geldstücke in seiner Faust und lächelte. »Einen Dollar und zweiundzwanzig Cents«, sagte er.
    Garraty lachte. »Ein Vermögen. Was wirst du damit machen?«
    Baker lachte nicht, sondern blickte verträumt in die Dunkelheit. »Ich werde mir einen von den großen leisten.« Sein leichter Südstaatenakzent hatte sich beträchlich verstärkt. »Den bleigefaßten, der innen mit rosa Seide ausgeschlagen ist. Den mit dem weißen Satinkopfkissen.« Seine dunklen Augen glänzten. »Würde niemals drin verrotten, bis die Trompete zum Jüngsten Gericht bläst, wenn wir wieder so wie jetzt sein werden. Mit unverweslichem Fleisch bekleidet.«
    Garraty war entsetzt. »Baker? Bist du verrückt geworden, Baker?«
    »Du kannst sie nicht besiegen. Wir waren verrückt, es zu versuchen. Du kannst diese Verdorbenheit nicht besiegen. Nicht in dieser Welt. Bleigefaßt, das ist das Richtige, um -«
    »Wenn du dich nicht zusammenreißt, wirst du morgen früh tot sein.«
    Baker nickte. Seine Haut spannte sich über seinen Wangenknochen, so daß sein Kopf wie ein Totenschädel aussah. »Das ist richtig. Ich möchte sterben. Du etwa nicht? War das nicht der Grund dafür?«
    »Sei still!« schrie Garraty. Er hatte wieder Schüttelfrost.
    Die Straße stieg wieder steil an und beendete ihre Unterhaltung. Garraty stemmte sich gegen den Berg, gleichzeitig schwitzend und frierend und die ungeheuren Schmerzen im Rücken und seiner Brust ignorierend. Er erwartete, daß seine Muskeln schlicht ihren Dienst versagen würden. Er dachte über Bakers bleigefaßten Sarg nach, der ihn gegen die dunklen Jahrtausende schützen sollte, und fragte sich, ob dies das Letzte sei,
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