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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch
Autoren: Stephen King
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ihre Tränen aufzuhalten. Was wäre, wenn sie sie von ihm wegzerren mußten? Er hatte gehört, daß das schon vorgekommen sei. Bei dem Gedanken wurde ihm ganz kalt. In weicherem Ton sagte er zu ihr: »Laß es gut sein, Mam. Okay?« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Okay«, antwortete er an ihrer Stelle.
    Ihr Kinn zitterte immer noch, aber sie nickte. Es war nicht gut, aber es war zu spät. Man konnte nichts mehr dagegen tun.
    Ein leichter Windhauch rauschte durch die Kiefern. Der Himmel war strahlend blau. Die Straße lag vor ihm. Ein einfacher Stein markierte die Grenze zwischen Amerika und Kanada. Auf einmal war seine Erwartung stärker als seine Angst. Er wollte endlich gehen, wollte, daß die Sache endlich begann.
    »Ich hab' das hier für dich gebacken. Du kannst es doch mitnehmen, nicht wahr? Es wird nicht zu schwer sein?« Sie warf ihm ein Aluminiumpäckchen mit Plätzchen zu.
    »Klar.« Er fing es auf und umarmte sie ungeschickt, weil er ihr das geben wollte, was sie brauchte. Er küßte sie auf die Wange. Ihre Haut fühlte sich an wie alte Seide. Einen Augenblick lang hätte er beinahe selbst geweint, doch dann dachte er an das schnauzbärtige, lächelnde Gesicht des Majors und trat einen Schritt zurück. Während er die Plätzchen in der Tasche seiner verblichenen Armeejacke verstaute, sagte er:
    »Wiedersehn, Mam.«
    »Wiedersehen, Ray. Sei ein braver Junge.«
    Sie blieb noch einen Augenblick stehen, und er hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie unendlich leicht; als könne sogar die sanfte Morgenbrise sie erfassen und wie einen Löwenzahnsamen durch die Luft segeln lassen. Dann stieg sie ins Auto und startete den Motor. Er blieb wartend stehen. Sie hob eine Hand und winkte ihm zu. Die Tränen flössen jetzt. Er konnte es sehen. Er winkte zurück, und als der Wagen aus der Parklücke fuhr, stand er einfach da, die Arme an den Seiten, und war sich darüber im klaren, wie tapfer, brav und einsam er aussehen mußte. Doch als der Wagen das Tor passiert hatte, überfiel ihn ein Gefühl der Verlorenheit, und er war wieder nur ein sechzehnjähriger Junge, der sich ganz allein an einem fremden Ort befand.
    Er wandte sich zur Straße um. Der andere Junge, der dunkelhaarige, sah seinen davonfahrenden Eltern nach. Er hatte eine häßliche Narbe auf einer Wange. Garraty ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
    Der dunkelhaarige Junge musterte ihn mit einem kurzen BUck. »Hallo!«
    »Ich bin Ray Garraty«, stellte er sich vor und hatte das Gefühl, sich zu blamieren.
    »Ich bin Peter McVries.«
    »Bist du bereit?« fragte Garraty.
    McVries zuckte die Achseln. »Ich bin nervös. Das ist das Schlimmste.«
    Garraty nickte.
    Sie gingen zusammen zur Straße und zum Grenzstein. Hinter ihnen fuhren weitere Wagen weg. Plötzlich fing eine Frau an zu kreischen. McVries und Garraty rückten unwillkürlich dichter zusammen. Keiner blickte zurück. Vor ihnen lag die breite, schwarze Straße. i »Der Asphalt wird um die Mittagszeit ziemlich heiß wer-, den«, sagte McVries unvermittelt. »Ich werde mich an die Seitenstreifen halten.«
    Garraty nickte. McVries betrachtete ihn nachdenklich.
    »Wieviel wiegst du?«
    »Hundertsechzig.«
    »Ich wiege hundertsiebenundsechzig. Man sagt, daß die schweren Kerls schneller müde werden, aber ich glaube, ich habe eine ganz gute Kondition.«
    Garraty fand, daß Peter McVries' Kondition besser als nur gut wirkte - er sah ungeheuer durchtrainiert aus. Er fragte sich, wer das wohl war, der behauptet hatte, daß die schweren Kerls schneller müde würden; bevor er aber danach fragte, besann er sich anders. Der Marsch war eins von den Dingen, die aus Legenden, Apokryphen und Talismanen bestanden.
    McVries setzte sich zu einer Gruppe von Jungen in den Schatten, und nach einer Weile setzte Garraty sich neben ihn. McVries kümmerte sich nicht mehr um ihn. Garraty blickte auf seine Uhr. Es war fünf Minuten nach acht. Fünfundfünf -zig Minuten mußten sie noch warten. Die ungeduldige Spannung kehrte zurück, und er tat sein Bestes, sie zu unterdrücken. Er nahm sich vor, das Sitzen zu genießen, solange er es noch konnte.
    Alle Jungen saßen, manche in Gruppen, manche allein; einer war auf den untersten Ast einer Kiefer geklettert, von dem er die Straße überblicken konnte. Er aß etwas, das wie ein Marmeladenbrot aussah. Er war blond und dünn und hatte eine lilafarbene Hose, ein blaues Hemd und einen alten, grünen Pullover mit Reißverschluß an, der an den Ellbogen durchgescheuert war.
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