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Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson

Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson

Titel: Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
Autoren: Elias Palm
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zu betrachten. Die physischen Überreste eines Lebens. Die Leiche, die auf ihrem rostfreien Tisch landete, war in ihren Augen nichts weiter als eine Hülle. In vielen Fällen half ihr diese Art zu denken, um über all die Tragik hinwegsehen zu können, die ihren Saal passierte. Nur in einzelnen Fällen drang der Schmerz der Angehörigen oder die Schmerzen, die der Verstorbene ihrer Auffassung nach hatte aushalten müssen, durch die Mauer hindurch, die sie um sich herum aufgebaut hatte. Sie versuchte sich einzureden, dass genau dieser Aspekt sie menschlich erscheinen ließ und sie daran erinnerte, dass sie noch nicht vollständig abgestumpft war. Doch die Grenze war hauchdünn. Mit den Angehörigen in allzu hohem Maß mitzufühlen zehrte so sehr an Ellas Kräften, dass es ihr auf Dauer unmöglich sein würde, ihrer Arbeit nachzugehen. Sie registrierte stattdessen die Gefühle der Angehörigen, ohne selbst etwas zu empfinden. Das war schlicht und einfach die einzige Art zu überleben.
    Nachdem sie die Ausbreitung der Totenflecke untersucht hatte, stellte sie sich ans Kopfende des jungen Mannes und betrachtete sein Gesicht. Um die Augen herum, auf der Stirn, den Wangen und um die Ohren herum entdeckte sie kleine punktförmige Einblutungen in der Haut. Entsprechende Einblutungen fand sie auch an der Innenseite der Augenlider und in der Mundschleimhaut. Dann entfernte sie das Seil – eines, wie man es zum Abschleppen von Autos benutzte, es war drei Mal um seinen Hals geschlungen – und tastete den Nacken ab, um festzustellen, ob er sich das Genick gebrochen hatte. Auf der Haut blieb ein deutlicher Abdruck des Seils zurück. Ella beschrieb den Abdruck eingehend in ihrem Protokoll.
    Nachdem sie die übrigen Hautpartien der gesamten Leiche untersucht hatte, ohne etwas Auffälliges festzustellen, griff sie nach dem Messer und begann mit der inneren Untersuchung. Bei Todesfällen durch Erhängen richtete Ella immer besondere Aufmerksamkeit auf den Hals und den Nacken. Eventuelle Verletzungen des Zungenbeins oder Einblutungen in die Halsmuskulatur konnten möglicherweise darauf hindeuten, dass der Tote erdrosselt und erst nach Eintreten des Todes aufgehängt worden war. Doch der junge Mann hatte keine derartigen Verletzungen.
    Ihr detailliertes Protokoll über die äußere und innere Leichenschau mündete in einem Gutachten, in dem sie auflistete, welche Funde sie gemacht hatte, welche Ergebnisse die chemische Untersuchung der Körperflüssigkeiten erbracht hatte und wie die Todesursache lautete. Ebenso war es wichtig, eine Beurteilung dessen vorzunehmen, was etwas plump als Todesart bezeichnet wurde. Sie würde mit anderen Worten versuchen, die Absicht des Verstorbenen im Hinblick auf die Tat zu beurteilen, die zu seinem Tod geführt hatte. Diese Beurteilung gestaltete sich bei Personen, die infolge einer Medikamentenvergiftung gestorben waren, oft bedeutend komplizierter als bei solchen, die sich erhängt hatten. Überdosierung war eine Sache, aber jeder Mensch sprach außerdem in unterschiedlicher Art und Weise auf Medikamente an. Es gab Gruppen, die gewisse Präparate in untypischer Weise abbauten. Ella selbst gehörte zu den Personen, die aus irgendeinem Grund auf ein bestimmtes schmerzlinderndes Präparat nicht ansprachen. Das hatte sie bereits während ihrer Studienzeit herausgefunden, als sie einmal eine enorm hohe Dosis eines starken Schmerzmittels benötigt hatte, um nach einer heftigen Zahnentzündung ihre Schmerzen loszuwerden. Bei der Dosis, die sie eingenommen hatte, hätte sie laut dem Medizinkatalog FASS bewusstlos werden müssen, was sie phasenweise auch gerne gewesen wäre. Doch das Ziel hatte darin bestanden, schmerzfrei und nicht bewusstlos zu werden und auch nicht ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn sich jemand hingegen ein Seil um den Hals schlang und sich damit an der Decke erhängte, steckte dahinter eine eindeutige Absicht.
    Dennoch stand Ella nach der Obduktion vor dem Spiegel, wusch sich die Hände, betrachtete ihre ergrauten Haarsträhnen und grübelte über den ersten Fall des Tages nach.

Kapitel 2
    Das Wasser tropfte Ella von den nassen Haaren über die Schultern herunter. Sie gehörte der neuen Generation von Rechtsmedizinern an, die sich nach einer Schicht im Obduktionssaal duschten. Ihre älteren Kollegen hingegen wunderten sich über den hygienischen Fanatismus der jüngeren Ärzte. Vielleicht würde sie sich ja auch irgendwann damit begnügen, lediglich die Obduktionskleidung abzustreifen,
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