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Todeserklärung

Todeserklärung

Titel: Todeserklärung
Autoren: Klaus Erfmeyer
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ermöglicht. Ich habe danach in Dortmund Wirtschaft studiert und sogar mein Diplom geschafft. Später bin ich nach Hessen gegangen. Sebastian hat nach dem Abitur ein Informatikstudium begonnen, aber nicht zu Ende geführt. Trotzdem war er in den Augen unserer Eltern immer der Bessere, der Begabtere. Alles, was Sebastian machte und plante, war stets über jeden Zweifel erhaben und fand den Gefallen unserer Eltern, wenn Sie verstehen, was ich meine!«
    Knobel nickte, ohne richtig zu verstehen.
    »Sebastians Leben ist leichter«, fuhr Pakulla fort, »weil er verantwortungslos ist. Er muss nie für die Konsequenzen seines Tuns einstehen. Wenn ihm etwas nicht gelingt, trennt er sich von seinen früheren Plänen und schlägt eine neue Richtung ein. Und plötzlich ist es so, als habe er nie etwas anderes vorgehabt. Er lebt seine neuen Pläne, und keiner hinterfragt seinen Kurswechsel. – Stellen Sie sich das vor: Er studiert Informatik und heute ist er Maler. Unsere Eltern haben sein Studium genauso finanziert wie meines. Doch während mein Werdegang keiner Erwähnung wert war und ich sogar als Versager galt, als ich in Dortmund beruflich nicht Fuß fassen konnte, hatten meine Eltern für meinen Bruder Verständnis. Sebastian lebt ein Leben, das mit dem Wertesystem unserer Eltern nichts gemein hat. Er lebt in den Tag hinein und verkauft sein Dasein als große Leistung. Eine seiner liebsten Formulierungen ist: Ich bin eben so. Sie müssen sich meinen Bruder Sebastian als jemanden vorstellen, der jede seiner Pleiten damit entschuldigt, dass das Leben ihm genau diesen Weg vorgezeichnet hat und er deshalb bar jeder Verantwortung ist. Das ist der tiefere Sinn, wenn ein Mensch zu seiner Rechtfertigung nichts anderes sagen kann als Ich bin eben so .«
    Gregor Pakulla blickte auf seine Armbanduhr und kürzte ab.
    »Ich denke, Sie verstehen mich jetzt, Herr Rechtsanwalt!«
    Knobel bejahte.
    »Also entsenden Sie Ihre Studentin, auf dass sie meinen kleinen und doch so großen Bruder finde!«
    Pakulla zwinkerte ihm zu. »Wie war doch gleich ihr Name?«
    »Wie Sie wissen, habe ich ihn bisher nicht erwähnt«, antwortete Knobel. »Sie heißt Marie Schwarz.«
    »Marie!?«
    Pakulla ließ den Namen nachklingen.
    »Zeitlos schöner Name! – Und studiert Germanistik. Das steht doch für die schönen Dinge.«
    Seine weichen Worte warben um Vertraulichkeit, doch Knobel erwiderte nichts.
    »Nun gut.« Pakulla erhob sich.
    »Ich muss jetzt gehen, Herr Knobel. Mein Zug fährt in einer halben Stunde. Sie können mir glauben, ich kenne den Fahrplan nach Limburg schon auswendig. – Sie melden sich, wenn Sie erste Ergebnisse haben?«
    Knobel bestätigte das geschäftsmäßig, und sie trennten sich nach flüchtigem Handschlag. Er trat an das Fenster seines Büros und sah der kleinen schmächtigen Gestalt hinterher, die hastend die Straße überquerte und dann rechts in den Heiligen Weg entschwand.

3
    Als sich Knobel wieder vom Fenster abwandte, war Hubert Löffke in sein Büro getreten, im rechten Mundwinkel die unvermeidliche Zigarette. Er hatte es aufgegeben, seinen Kollegen aus Büro 104 darum zu bitten, in seinem Büro nicht zu rauchen. Löffke ignorierte diese Bitten wie er keine Gelegenheit ausließ, Knobel seine Abneigung spüren zu lassen.
    »Jeden Tag beginnt ein neues Match«, bemerkte Löffke seither häufiger gegenüber Knobel, was nichts anderes bedeutete, dass Knobel sich seiner Position in der Kanzlei nicht sicher sein sollte und auch nicht sicher sein konnte. Löffke würde nicht nur weiterhin in Knobels Büro rauchen, sondern gegen ihn intrigieren, bei Sekretärinnen und Anwälten Gerüchte streuen, die manchmal zu kleinen Geschwüren wuchern und manchmal im Keim ersticken würden. Knobel genoss in der Kanzlei hohes Ansehen. Deshalb mied Löffke den offenen Angriff, der zum Scheitern verurteilt sein musste. Aber er stichelte bei allen sich bietenden Gelegenheiten, stets bereit, sich wieder zurückzuziehen, wenn seine Anfeindungen nicht auf fruchtbaren Boden fielen. Der dicke Löffke war ein zäher Gegner, so alt wie Knobel, ausdauernd und nachtragend genug, um immer wieder seine Angriffe aufs Neue zu beginnen, von einer eigenartigen Lust getrieben, die ihn davor bewahrte, sich in der Rivalität mit Knobel zu verzehren. Löffke genoss die Reibung. Das machte ihn gefährlich. Knobel wusste, dass er Löffkes Provokationen nur ein Ende setzen konnte, wenn er seinem Widersacher offen entgegentrat. Doch ihm war ebenso bewusst, dass
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