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Tod im Weinkontor

Tod im Weinkontor

Titel: Tod im Weinkontor
Autoren: Michael Siefener
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seiner eigenen Unzulänglichkeit nur allzu deutlich
bewusst. Die Kirche und er hatten so vieles gemeinsam: Beide
waren sie im Werden begriffen, beide standen sie fest auf Gott
gegründet, waren aber wesentlicher Wände und sichernder
Begrenzungen beraubt und warteten mit banger Zuversicht auf eine
bessere Zukunft.
    Nach der Messe, zu der nur drei alte Mütterlein seines
Sprengels gekommen waren, versuchte er eine Stunde lang
vergeblich, dem Familiaris im Pfarrhaus die Anfangsgründe
des Lateinischen beizubringen. Dann schlich er hinaus auf den
Kirchhof und stand lange vor Ludwigs namenlosem Grab. Der Regen
hatte sich verzogen, die Wolkendecke war aufgerissen und
enthüllte den abnehmenden Mond, dessen blasser Glanz durch
den frühen Abend schwebte. Die Apsis der Kirche ragte auf
wie eine Drohung.
    Da legte sich plötzlich eine Hand auf seinen Arm.
    Andreas wirbelte herum und sah in die grünen, tiefen
Augen Elisabeths.
    »Grete hat mir den Weg zu Euch gewiesen«, sagte
sie leise und schaute den traurigen Erdhügel an. »Wart
Ihr bei seiner Witwe?«
    Andreas nickte und berichtete ihr zunächst nur von dem
Zauberbuch. Sie schüttelte den Kopf und sagte:
»Natürlich hat diese verfluchte Frau es ihm
untergeschoben, oder habt Ihr Anmerkungen von Ludwigs Hand darin
bemerkt?«
    Andreas schaute sie verblüfft an. An das
Nächstliegende hatte er nicht gedacht. Seine Abscheu vor dem
Büchlein war so groß gewesen, dass er es nicht
eingehender untersucht hatte. »Vielleicht habt Ihr Recht.
Es würde zu einer anderen Beobachtung passen, die ich unter
dem Dach des Leyendecker-Hauses gemacht habe.« Nun
berichtete er ihr auch von dem zu niedrigen Hocker.
    Elisabeth nahm die Hand von seinem Arm und stieß einen
Laut aus, in dem tiefe Verzweiflung und maßlose Wut
mitschwangen. Andreas zuckte zusammen und rückte von ihr ab.
In ihrem Gesicht flackerte eine Wildheit, die ihn entsetzte.
    Gleichzeitig hätte er sie am liebsten in den Arm
genommen.
    »Er ist ermordet worden. Ich habe es gewusst! Und
Barbara hat ihn auf dem Gewissen!« Sie sank vor dem Grab
ihres Bruders nieder und grub die Finger in den vom Regen
aufgeweichten Boden. Ihr Körper wurde von Schluchzern
geschüttelt.
    Andreas rang verzweifelt die Hände. Er kniete sich neben
sie und wagte es.
    Er nahm sie in den Arm.
    Trotz ihrer Größe war sie so zart. Er umgriff sie
mühelos. Als sie den Druck seiner Finger unter ihrem Busen
spürte, rollte sie sich zur Seite und blieb einige Ellen von
Andreas entfernt auf dem Bauch liegen. Rasch stand er wieder auf.
Er war so verdutzt, dass er ihr nicht einmal die Hand bot, um ihr
beim Aufstehen zu helfen.
    Mühelos kam sie auf die Knie und drehte ihm den Kopf zu.
In ihrem Blick lag nur noch Angst. Dann richtete sie sich auf.
»Wir müssen diese Frau dem Richter
übergeben«, sagte sie hastig und gepresst.
    Der Abend stahl sich zwischen den Mauern des Friedhofs und der
Kirche heran. Die Farben verblassten zu einem düsteren Grau,
über dem hier und da Tücher aus fahlem Mondlicht lagen,
die auch das Gras zu weißem Bildwerk machten.
    Andreas versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er
hatte eine Frau berührt. Seine Absichten waren rein und
lauter gewesen. Doch was er da gespürt hatte… Er
begriff nichts. »Barbara Leyendecker…«,
stotterte er, »… kann… hat…, es ist
nichts bewiesen. Es gibt da auch noch eine andere
Möglichkeit.«
    Elisabeth sah ihn fragend an. Ihr Kleid war mit Erde
beschmiert, und die Haube saß ihr schief auf dem Kopf. Sie
schaute an Andreas vorbei, nach oben, und erstarrte. »Wir
werden beobachtet«, flüsterte sie.
    Andreas drehte sich um. Eine Gestalt verschwand hinter dem
erleuchteten Fenster der Wohnstube im Erdgeschoss. Vielleicht war
es der erfolglose Schüler, vielleicht auch Grete, die
Hausmagd. »Kommt. Ich bringe Euch nach Hause. Es schickt
sich nicht für eine junge Frau, allein durch die abendliche
Stadt zu gehen.« Er bot ihr den Arm.
    Sie scherte sich nicht darum, dass sie seinen Priesterrock mit
Lehm beschmierte, und lächelte ihn zaghaft an. Er
führte sie durch die Diele nach draußen. Niemand
begegnete ihnen, doch Elisabeth achtete peinlich genau darauf,
dass sie ihm nicht zu nahe kam.
    Sie mussten sich beeilen. Die Nacht übergoss die Stadt
rasch mit ihrer Schwärze, welche die schmale Mondsichel nur
mit schwachen weißen Strichen zu durchbrechen vermochte,
und die wenigen Kerzen vor den Heiligenbildern an den
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