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Der Herr von Moor House

Der Herr von Moor House

Titel: Der Herr von Moor House
Autoren: Anne Ashley
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1. KAPITEL
    Der große, elegant gekleidete Gentleman, der an diesem feuchtkalten, deprimierenden Novemberabend durch einen der weniger ansehnlichen Stadtteile Londons ging, zog viele neugierige Blicke auf sich. Nur wer kein Dach über dem Kopf hatte, blieb heute auf der Straße. Umso unverständlicher war es, dass ein so vornehmer Mann um diese Stunde hierher kam.
    Da er den Kragen seines voluminösen Mantels hochgeklappt und den Zylinder tief in die Stirn gezogen hatte, konnte man sein Gesicht kaum sehen. Aber hin und wieder fiel aus einem Fenster Licht auf gebräunte Wangen und eine verdrossene Miene. Deshalb lag die Vermutung nahe, der Gentleman wäre ein angenehmeres Klima gewöhnt und hätte England nur notgedrungen um diese unfreundliche Jahreszeit aufgesucht.
    Zumindest gewann der junge Schreiber im Vorraum der Firma Messrs. Blagdon, Blagdon und Metcalf diesen Eindruck, als der Gentleman durch die Tür trat und ohne höfliche Umschweife verkündete: “Mein Name ist Blackmore, Christian Blackmore, und ich möchte Mr Metcalf sprechen.”
    “Gewiss, Sir, er erwartet Sie.” Der Schreiber sprang hastig auf und führte den Besucher in ein Büro, wo ein schmächtiger Mann mit einer altmodischen Perücke hinter einem massiven Eichenschreibtisch saß.
    “Mein lieber Sir, welch eine Freude!” Mr Metcalf verbarg sein Entsetzen über die drastische Veränderung des Mannes, dem er vor einem halben Jahrzehnt zuletzt begegnet war, erhob sich lächelnd und schüttelte seinem Besucher die Hand. Seit langer Zeit fungierte er als Anwalt der Familie Blackmore, und er hatte den fröhlichen, unbeschwerten kleinen Christian zu einem attraktiven, charmanten Gentleman heranwachsen sehen, der zahlreiche Frauenherzen betörte.
    Natürlich hatte ihn der Tod seiner schönen jungen Gemahlin ein knappes Jahr nach der Hochzeit tief getroffen. Und es war auch begreiflich, dass er den Familiensitz Moor House, den Schauplatz der Tragödie, sofort verlassen hatte. Die folgenden Jahre waren für ihn dann wirtschaftlich sehr profitabel gewesen. Im Gegensatz zu seinem Vater besaß Christian einen ausgeprägten Geschäftssinn. Er investierte die Mitgift seiner Frau in eine Handelsfirma in Indien, die er gemeinsam mit einem Freund gründete. Für beide Partner warf das Unternehmen beträchtlichen Gewinn ab. Doch die Jahre harter Arbeit hatten ihren Tribut gefordert, wie Christians äußere Erscheinung deutlich zeigte.
    Zu beiden Seiten seiner eindrucksvollen Nase hatten sich tiefe Kerben gebildet, die bis zu den Winkeln des zusammengepressten Mundes reichten. Die hohe Stirn war gefurcht, feine Fältchen umgaben die durchdringenden dunklen Augen mit den langen Wimpern. Soweit Mr Metcalf das feststellen konnte, zogen sich noch keine grauen Fäden durch das dichte, leicht gewellte, zu einer modischen Windstoßfrisur gekämmte schwarze Haar. Und die Figur unter dem weiten Mantel wirkte genauso athletisch wie damals. Trotzdem glich Christian mit seinen einunddreißig Jahren eher einem Vierzigjährigen.
    “Verzeihen Sie, dass ich Sie so spät am Abend aufsuche”, begann er und nahm im Besuchersessel vor dem Schreibtisch Platz. “Wie ich in dem Brief erwähnte, den ich Ihnen kurz nach meiner Ankunft auf englischem Boden schrieb, wollte ich ein paar Wochen mit Freunden in Derbyshire verbringen. Unglücklicherweise war meine Rückkehr in die Stadt von etlichen Missgeschicken begleitet. Obwohl sich während meiner Abwesenheit der Zustand vieler Straßen erheblich verbessert hat, versinkt man auf den Nebenstraßen nach starken Regenfällen immer noch im Schlamm.”
    “Oh, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Sir. Am Freitag arbeiten mein Schreiber und ich oft etwas länger. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?” Der Anwalt ging zu einem Eckschrank. “Da müsste ich irgendwo einen ausgezeichneten Portwein haben.”
    Mit einem schwachen Lächeln überlegte Christian, wie tröstlich es war, dass sich manche Dinge niemals änderten. Er respektierte den vertrauenswürdigen Familienanwalt und verstand nicht, warum sein Vater Mr Metcalfs Ratschläge in späteren Jahren missachtet hatte. “Daran zweifle ich nicht. Wann immer ich hier war, hatten Sie stets einen besonderen Tropfen zu bieten.”
    Lachend kehrte der Anwalt mit dem Portwein und zwei Gläsern zum Tisch zurück. “Mein einziges Laster, Sir.”
    “Dann muss ich Ihnen gratulieren. Nur wenige Männer dürfen sich eines so tugendhaften Lebens rühmen.”
    Klugerweise enthielt sich Mr
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